In die Wildnis
hier bin oder was ich mache, und es gibt auch niemanden, der mich mehr als nur teilweise versteht. Ich bin zu lange allein gegangen.
Das Leben, wie die meisten Leute es führen, hat mich noch nie befriedigt. Schon seit ich denken kann, sehne ich mich nach einem intensiveren, reicheren Leben.
Die Risiken und Abenteuer auf meinen Wanderungen in diesem Jahr waren wilder und aufregender denn je. Und was für gewaltige Landschaften ich sehen durfte - riesige, ungezähmte Einöden, vergessene Hochlandregionen, blaue Bergmassive, die aus orange schimmerndem Wüstensand aufragen, ein Meter fünfzig breite Canyons, die über hundert Meter tief waren. Wolkenbrüche, die sich über namenlose Canyons ergossen, und Hunderte von Felsbehausungen, die vor eintausend Jahren verlassen wurden.
Ein halbes Jahrhundert später ähneln McCandless' Worte auf unheimliche Weise denen von Ruess, wenn er in einer Postkarte an Wayne Westerberg erklärt, daß er beschlossen habe, »dieses Leben noch eine ganze Weile fortzusetzen. Die Freiheit und die schlichte Schönheit daran sind einfach zu verlockend.« Und auch in McCandless' letztem Brief an Ronald Franz [siehe Seite 87 - 90] finden sich Anklänge an Ruess.
Ruess war genau so ein Romantiker wie McCandless, wenn nicht sogar stärker, und genau wie McCandless pfiff er auf die Gefahr. Clayborn Lockert, ein Archäologe, für den Ruess bei Ausgrabungsarbeiten der Anasazi - Felsbehausungen vorübergehend als Koch arbeitete, erklärte Rusho gegenüber, daß er »entsetzt war über die unbekümmerte Art, an den gefährlichsten Felswänden herumzuturnen«.
Tatsächlich prahlt Ruess in einem seiner Briefe stolz:
»Hunderte Male habe ich mein Leben auf der Suche nach Wasser oder einer verlassenen Felshöhle brüchigem Sandstein und mehr oder weniger senkrechten Steilhängen anvertraut. Zweimal wäre ich beinahe von den Hörnern eines wilden Stieres durchbohrt worden. Aber bis jetzt bin ich immer ungeschoren davongekommen und ins nächste Abenteuer aufgebrochen.« Und in seinem letzten Brief gesteht Ruess seinem Bruder lässig:
Manchmal ist es ganz schön knapp geworden, wenn mal wieder eine Klapperschlange vor mir auftauchte oder ich an einem von diesen bröckeligen Steilhängen hing. Das letzte Desaster ist mir passiert, als Chocolatero [sein Packesel] einen Bienenschwarm in Aufruhr versetzte. Ein paar Stiche mehr, und ich hätte es nicht überlebt. Drei oder vier Tage lang konnte ich weder die Augen öffnen noch die Hände bewegen.
Wie McCandless ließ auch Ruess sich nicht von körperlichen Schmerzen abschrecken. Teilweise hat man sogar den Eindruck, daß er sie gerne in Kauf nahm. »Seit nunmehr sechs Tagen leide ich unter den schrecklichsten Qualen. Ich bin, wie alle sechs Monate, mit Giftsumach in Berührung gekommen - ein Ende meiner Qualen ist nicht abzusehen«, erzählt er seinem Freund Bill Jacobs. Er fährt fort:
Zwei Tage lang wußte ich nicht, ob ich nun tot oder lebendig bin. Ich wand und krümmte mich in der brütenden Hitze, während Fliegen und ganze Heerscharen von Ameisen auf mir herumkrabbelten. Die Entzündungen im Gesicht, an den Armen und auf dem Rücken eiterten und verkrusteten. Ich konnte nichts essen - mir blieb nichts anderes übrig, als alles stoisch über mich ergehen zu lassen.
Es erwischt mich jedesmal, aber so schnell lasse ich mich aus den Wäldern nicht vertreiben.
Und wie McCandless legte sich auch Ruess auf seiner letzten Odyssee einen neuen Namen beziehungsweise eine ganze Reihe neuer Namen zu. In einem Brief vom 1.März 1931 setzt er seine Familie davon in Kenntnis, daß er sich von nun an Lan Rameau nennt und bittet sie, »meinen Plüschnamen... oder was sagt man auf französisch? Nomme de plusse, oder wie?« zu respektieren. Zwei Monate später jedoch verkündet er in einem anderen Brief, daß »ich meinen Namen erneut geändert habe. Ich heiße jetzt Evert Rulan. Die, die mich noch von früher kennen, fanden mein erstes Pseudonym zu spleenig und französisiert.« Und im August desselben Jahres nennt er sich ohne nähere Erklärung wieder Everett Ruess und bleibt auch dabei - bis zu dem Tag, an dem er in die Davis - Schlucht absteigt. Aus irgendwelchen unergründlichen Motiven ritzte er an zwei Stellen Nemo - lateinisch für »niemand« - in den weichen Navajo - Sandstein, um dann spurlos zu verschwinden. Er war zwanzig Jahre alt.
Seine letzten Briefe waren am 11. November 1934 in Escalante abgestempelt worden, einer Mormonensiedlung
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