In die Wildnis
siebenundfünfzig Meilen nördlich der Davis-Schlucht. Sie waren an seine Eltern und seinen Bruder adressiert, und Ruess deutete darin kurz an, daß er »ein, zwei Monate lang« jegliche Verbindung zur Außenwelt abbrechen wolle. Acht Tage nachdem er sie abgeschickt hatte, begegnete Ruess ungefähr eine Meile von der Schlucht entfernt zwei Schafhirten und verbrachte mit ihnen zwei Tage an ihrem Lagerplatz. Die Männer waren die letzten Menschen, die den Jungen nachweislich lebend gesehen haben.
Etwa drei Monate nachdem Ruess Escalante verlassen hatte, erhielten seine Eltern ein Bündel ungeöffneter Briefe, das von der Post in Marble Canyon, Arizona, an sie weitergeleitet worden war, da Ruess die Stadt schon längst passiert haben sollte. Um ihren Sohn besorgt, setzten Christopher und Stella Ruess sich mit den Behörden von Escalante in Verbindung, die Anfang März 1935 einen Suchtrupp auf die Beine stellten. Sie begannen beim Hirtenlager, wo Ruess zuletzt gesehen worden war, und durchkämmten von dort aus die gesamte Umgebung. Schon bald stießen sie auf Everetts zwei Packesel, die in der Davis - Schlucht in einem aus Gestrüpp und Ästen improvisierten Pferch zufrieden vor sich hin grasten.
Die Esel befanden sich im oberen Teil des Canyons, etwas stromaufwärts von der Stelle, wo die Mormonentreppe zu der Canyon - Sohle aufschließt. Ein Stück weiter stromabwärts fand der Suchtrupp Überreste eines eindeutig von Ruess angelegten Lagers, und am Eingang eines Getreidespeichers der Anasazi, unter einem prächtigen, natürlichen Felsbogen, stießen sie auf die in eine Felsplatte geritzte Inschrift »NEMO 1934«. Auf einem nahegelegenen Felsen standen sorgfältig arrangiert vier Anasazi - Töpfe. Drei Monate später stieß ein weiterer Suchtrupp etwas tiefer in die Schlucht auf eine zweite in Stein gekratzte Nemo - Inschrift (beide Inschriften sind nicht mehr vorhanden; nach Fertigstellung des Glen Canyon - Dammes im Jahre 1963 wurden sie von den Fluten des sich allmählich füllenden Lake Powell ausgewaschen). Abgesehen von den Packeseln und dem Zaumzeug mit den Gepäcktaschen konnte jedoch nichts von Ruess' Habseligkeiten - seine Camping - Utensilien, Tagebücher und Malereien - gefunden werden.
Es wird allgemein angenommen, daß Ruess bei dem Versuch, in einem der Canyons eine Steilwand zu erklimmen, in den Tod gestürzt ist. In Anbetracht der tückischen topographischen Beschaffenheit der Gegend (die meisten Schluchten dieser Region sind aus brüchigem, die Erosion begünstigenden Navajo - Sandstein geformt) und Ruess' Vorliebe zu gefährlichen Klettertouren ist dies eine durchaus einleuchtende Erklärung. Dennoch konnten bei ausgedehnten Suchexpeditionen zu den Steilhängen in näherer und weiterer Umgebung keine menschlichen Gebeine ausfindig gemacht werden.
Und wie will man die Tatsache erklären, daß Ruess die Schlucht allem Anschein nach mit seiner gesamten schweren Ausrüstung, jedoch ohne seine Packesel verlassen hat? Diese verblüffenden Umstände haben manch einen, der dem Fall nachspürte, zu der Schlußfolgerung veranlaßt, daß Ruess von einer Viehdiebbande ermordet wurde, die sich zu jener Zeit bekanntermaßen in der Gegend herumtrieb. Anschließend hätten sie seine Habseligkeiten an sich genommen und seine Leiche vergraben oder in den Colorado River geworfen. Auch diese Theorie ist nicht von der Hand zu weisen; beweisen läßt sie sich jedoch nicht.
Kurz nach Everetts Verschwinden äußerte sein Vater die Vermutung, daß der Junge wahrscheinlich von Jules Vernes »Zwanzigtausend Meilen unterm Meer« dazu inspiriert worden war, sich Nemo zu nennen - ein Buch, das Everett viele Male gelesen hatte und in dem der wackere Held, Kapitän Nemo, der Zivilisation entflieht und »auch die letzten Bande zur Erde« zerreißt. Everetts Biograph, W. L. Rusho, stimmt mit Christopher Ruess überein und meint weiter, daß Everetts »Rückzug aus der Gesellschaft, seine Geringschätzung irdischer Vergnügen und das besagte NEMO - Signum in der Davis - Schlucht die Vermutung sehr nahelegen, daß er sich mit der Jules-Verne - Figur stark identifizierte«.
Die Tatsache, daß Ruess von Kapitän Nemo fasziniert war, nährte unter einer ganzen Reihe von Ruess - Mythographen die Spekulation, daß Everett, nachdem er die Davis - Schlucht verlassen hatte, der Welt einen Streich spielte, sich unter einem anderen Namen irgendwo niederließ und quicklebendig ist - oder war. Als ich vor einem Jahr gerade in Kingman,
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