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In die Wildnis

In die Wildnis

Titel: In die Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Krakauer
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Träume zu leben. Das ist das Großartige an ihnen. Sie haben es versucht. Das tun die wenigsten.«
    Um Everett Ruess und Chris McCandless besser zu verstehen, mag es helfen, ihre Handlungen in einem größeren Zusammenhang zu betrachten. Es ist aufschlußreich, sich mit ihren Pendants zu beschäftigen, mit Menschen, die vor langer Zeit an einem fernen Ort lebten.
    Vor der Südostküste Islands erhebt sich eine flache, dem Festland wie ein Wall vorgelagerte Insel namens Papös. Kahl, felsig und von heulenden Nordatlantikstürmen heimgesucht, bezieht sie ihren Namen von den ersten dort ansässigen Siedlern, den papar genannten irischen Mönchen, die von dort allerdings schon lange verschwunden sind. Als ich an einem Sommernachmittag den von Wind und Wetter zerklüfteten Strand der Insel entlangspazierte, stolperte ich über das Muttergestein von verwitterten, fest in den Tundraboden verankerten Rechtecken: Überreste der ehemaligen Behausungen der Mönche, die sogar noch einige hundert Jahre älter sind als die Anasazi - Ruinen in der Davis - Schlucht.
    Die Mönche segelten oder ruderten von der Westküste Irlands herüber und gelangten bereits im fünften oder sechsten Jahrhundert auf die Insel. Sie stießen mit ihren sogenannten Coraclen in See, kleinen, offenen Booten aus Korb und darübergezogenen Rindshäuten, und überquerten eines der tückischsten Meeresgebiete der Welt. Sie hatten dabei nicht die leiseste Ahnung, ob sie auf der anderen Seite etwas erwartete, und wenn ja, was.
    Die papar riskierten ihr Leben - und verloren es in ungezählten Scharen. Sie taten dies weder, um Reichtum und persönlichen Ruhm zu erlangen, noch um für irgendeinen Despoten Land in Besitz zu nehmen. Wie der große Polarforscher und Nobelpreisträger Fridtjof Nansen betont, waren »diese bemerkenswerten Reisen... hauptsächlich auf dem Wunsch begründet, menschenleere Gebiete ausfindig zu machen, an denen diese Einsiedler in Frieden leben konnten, fern vom Lärm und den Versuchungen der zivilisierten Welt.« Als im neunten Jahrhundert die ersten Norweger vor den Küsten Islands auftauchten, wurde es den papar zu eng - obwohl die Gegend immer noch so gut wie menschenleer war. Die Mönche reagierten prompt, stiegen in ihre Coraclen und ruderten in Richtung Grönland. Nur ein inneres Verlangen und eine Sehnsucht von derart seltsamer Intensität, die unser heutiges Vorstellungsvermögen übersteigt, trieben sie über den windgepeitschten Ozean, trieben sie nach Westen, über den Rand der alten und damals noch einzig bekannten Welt hinaus. Wer über diese Mönche liest, wird unweigerlich von ihrem Mut, ihrer verwegenen Unschuld und ihrer großen Sehnsucht zutiefst berührt. Wer über diese Mönche liest, fühlt sich unwillkürlich an Everett Ruess und Chris McCandless erinnert.

Fairbanks

    KAPITEL ZEHN
    RUCKSACKREISENDER FÜHRT TAGEBUCH,
WÄHREND ER IN DER WILDNIS STIRBT
    ANCHORAGE, 12. September (AP) - Am vergangenen Sonntag wurde in einem abgelegenen Waldlager im Landesinnern Alaskas ein junger Rucksackreisender tot aufgefunden. Eine Verletzung hatte ihn am Weiterkommen gehindert. Der Mann konnte bisher noch nicht identifiziert werden. Sein Tagebuch und zwei am Lager gefundene Zettel erzählen jedoch die bewegende Geschichte seines verzweifelten, von Tag zu Tag aussichtsloser werdenden Überlebenskampfes.
    Aus dem Tagebuch geht hervor, daß sich der Mann, ein etwa dreißig Jahre alter Amerikaner, vermutlich durch einen Sturz eine Verletzung zuzog und über drei Monate an sein Lager gefesselt war. Es beschreibt, wie er sich durch die Jagd und das Sammeln von Pflanzen und Früchten vor dem Verhungern zu bewahren suchte, und wie er trotz allem immer schwächer wurde.
    Einer der beiden Zettel ist ein Hilferuf, den er schrieb, als er sich auf Nahrungssuche begeben mußte, und mit dem er aufsein Schicksal aufmerksam machen wollte. Auf dem zweiten Zettel verabschiedet er sich von der Welt...
    Die am gerichtsmedizinischen Institut in Fairbanks durchgeführte Autopsie ergab, daß der Mann vermutlich Ende Juli verhungert ist. Die zuständigen Behörden entdeckten bei der Überprüfung der Sachen des Mannes einen Namen, von dem angenommen wird, daß es der des Toten ist. Da es bisher jedoch nicht gelungen ist, den Toten einwandfrei zu identifizieren, wird der Name von den Behörden weiterhin vertraulich behandelt.
    THE NEW YORK TIMES,
13. SEPTEMBER 1992
      
      
    Als die New York Times sich der Geschichte des einsamen Wanderers annahm, hatten

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