In die Wildnis
Anwalt, und dann wirst du in der Lage sein, wirklich etwas zu bewegen.‹«
»Chris hatte immer sehr gute Zeugnisse«, meint Hathaway. »Was das anging, hatte er nie Schwierigkeiten, er war ungemein leistungsfähig, was er tun mußte, hat er getan. Seine Eltern hatten nie Anlaß zur Klage. Aber als er nicht auf die Uni wollte, sind sie ihm ganz schön aufs Dach gestiegen, und ich weiß nicht, was sie zu ihm gesagt haben, aber auf jeden Fall hat es gewirkt. Denn er ist auf die Emory gegangen, obwohl er keinen Sinn darin sah und es für die reinste Zeit und Geldverschwendung hielt.«
Es ist schon erstaunlich, daß Chris dem Druck seiner Eltern, zu studieren, nachgab, da er sonst kaum auf ihre Ratschläge hörte. Aber das Verhältnis zwischen Chris und seinen Eltern war ganz allgemein sehr widersprüchlich. Wenn Chris Kris Gillmer besuchte, zog er ständig über Walt und Billie her und stellte sie als unberechenbare Tyrannen dar. War er jedoch mit seinen anderen Kumpanen zusammen - Hathaway, Cucullu und Andy Horowitz, einem der Besten im Dauerlaufteam - verlor er nie ein Wort über sie. »Ich hatte einen sehr netten Eindruck von seinen Eltern«, meint Hathaway, »nicht viel anders als meine oder irgendwelche anderen Eltern. Chris konnte es einfach nicht ausstehen, wenn ihm jemand Vorschriften machte. Egal welche Eltern er gehabt hätte, er hätte immer etwas auszusetzen gehabt. Die ganze Vorstellung von Eltern behagte ihm nicht.«
McCandless' Persönlichkeit war ebenso komplex wie verwirrend. Einerseits konnte er sich völlig in sich selbst zurückziehen, andererseits konnte er aber auch ganz unbeschwert und gesellig sein. Und trotz seines überentwickelten sozialen Gewissens war er kein schmallippiger, ewig grimmiger Weltverbesserer, ohne Spaß am Leben. Im Gegenteil, er trank auch mal ganz gerne ein Gläschen und hatte ständig einen Scherz auf Lager.
Sein vielleicht größter innerer Widerspruch bestand in seinem gespaltenen Verhältnis zu Geld. Walt und Billie kannten Armut von Kindesbeinen an, und nachdem sie sich endlich nach oben gearbeitet hatten, hatten sie keinerlei Skrupel, die Früchte ihrer Arbeit zu genießen. »Wir haben wirklich sehr, sehr hart gearbeitet, Tag und Nacht«, betont Billie. »Als die Kinder noch klein waren, haben wir auf alles mögliche verzichtet, und was wir verdient haben, haben wir gespart und in die Zukunft investiert.« Als die Zunkunft schließlich Gegenwart war, trugen sie ihren bescheidenen Reichtum nicht zur Schau, aber sie kauften sich gute Kleider, ein wenig Schmuck für Billie und einen Cadillac. Schließlich erwarben sie das Haus an der Bucht und das Segelboot. Sie fuhren mit ihren Kindern nach Europa und nahmen sie mit in den Skiurlaub nach Breckenridge oder auf eine Kreuzfahrt in die Karibik. »Chris war das alles peinlich«, gesteht Billie ein.
Ihr Sohn, schon als Jugendlicher ein überzeugter Tolstoi - Fan, war der Meinung, daß Reichtum etwas Beschämendes sei, etwas Korrumpierendes, das von Natur aus böse sei - was eine gewisse Ironie enthält, da Chris der geborene Kapitalist war, mit untrüglichem Gespür dafür, wie man schnelles Geld machen konnte. »Chris war der geborene Unternehmer«, lacht Billie. »Von Anfang an.«
Als er acht war, legte er hinterm Haus in Annandale einen Gemüsegarten an, zog mit der Ernte von Tür zu Tür und verkaufte sie in der Nachbarschaft. »Da war also dieser süße, kleine Fratz, der einen Karren frisch geernteter Bohnen, Tomaten und Paprikaschoten hinter sich her zog«, erzählt Carine. »Wer konnte da schon widerstehen? Und Chris wußte das natürlich genau. Er hatte dann diesen Gesichtsausdruck, der sagte: ›Ich bin ja so süß! Wollen Sie mir keine Bohnen abkaufen?‹ Wenn er von seiner Runde zurückkehrte, war der Karren leer, und er hatte einen schönen Batzen Geld verdient.«
Als Chris zwölf war, ließ er einen Stapel Flugblätter ausdrucken und startete in der Nachbarschaft einen Kopierservice: Chris' Schnellkopien. Er bot einen kostenlosen Abholdienst an und benutzte den Kopierer in Walts und Billies Büro. Seinen Eltern zahlte er ein paar Cents pro Kopie, und der Preis, den er von den Kunden verlangte, lag zwei Cents niedriger als der im Copy - Shop an der Ecke. Er machte einen ansehnlichen Profit.
Nach seinem ersten Jahr auf Woodson wurde Chris 1995 von einer Baufirma der Gegend dazu angeheuert, die Stadtviertel nach zum Verkauf stehenden Häusern abzuklappern und Gebäudeverkleidungs und
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