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In die Wildnis

In die Wildnis

Titel: In die Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Krakauer
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einem förmlich ins Auge, wie sehr er sich verändert hatte. Er war verschlossen, beinahe abweisend. Ich sagte: ›Toll, dich zu sehen, Chris‹, und er antwortete nur zynisch: ›Ja, sagen hier alle.‹ Es war schwer, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Wir haben uns schließlich übers Studium unterhalten, das einzige, was ihn wirklich zu interessieren schien. Das gesellschaftliche Leben in Emory spielte sich hauptsächlich in den Studentenverbindungen ab, etwas, das Chris total ablehnte. Ich schätze, als alle anfingen, sich solchen Verbindungen anzuschließen, hat er sich von seinen alten Freunden abgewandt und sich immer mehr nach außen verschanzt. «
    Nach seinem zweiten College - Jahr kehrte Chris im Sommer wieder nach Annandale zurück und fing bei Domino's als Pizza - Fahrer an. »Nicht gerade der coolste Job, aber das war ihm egal«, erzählt Carine. »Er hat einen Haufen Geld gemacht. Ich weiß noch, wie er immer nachts nach Hause kam und am Küchentisch die Abrechnung machte, auch wenn er todmüde war. Er rechnete aus, wie viele Meilen er gefahren war, wieviel Domino's ihm fürs Benzin zahlte, wieviel das Benzin ihn tatsächlich kostete, seinen Reingewinn pro Schicht und wieviel es im Vergleich zur Woche davor war. Er hat alles akribisch festgehalten und mir gezeigt, wie man es anstellt, wie man Profit macht. Es war weniger das Geld, was ihn interessierte, eher die Tatsache, daß er sehr gut darin war, es zu verdienen. Es war wie ein Sport, und Geldzählen war seine Art, sich über den Spielstand zu informieren.«
    Das ungewöhnlich positive Verhältnis, das zwischen Chris und seinen Eltern bestand, seit er die High School abgeschlossen hatte, sollte sich in jenem Sommer auffällig verschlechtern. Walt und Billie wußten nicht, weshalb. Billie zufolge »war er immer öfter sauer auf uns und verschloß sich immer mehr - nein, das ist nicht das richtige Wort. Chris war nie verschlossen. Aber er erzählte uns nicht mehr, was ihn beschäftigte, und verbrachte mehr Zeit mit sich allein.«
    Chris' schwelende Wut hatte sich allem Anschein nach an einer Entdeckung entzündet, die er im Sommer vor zwei Jahren während seiner großen Reise gemacht hatte. In Kalifornien besuchte er das El - Segundo - Viertel, in dem er seine ersten sechs Lebensjahre verbracht hatte. Er rief ein paar alte Freunde der Familie an, unterhielt sich mit ihnen, stellte Fragen und bastelte sich schließlich aus den Antworten die näheren Umstände von Walts erster, gescheiterter Ehe zusammen - Umstände, die ihm bis dato verborgen geblieben waren.
    Walts Scheidung von seiner ersten Frau Marcia war keine saubere, im gegenseitigen Einvernehmen vollzogene Trennung gewesen. Nachdem er sich längst in Billie verliebt hatte, ja sogar noch nach Chris' Geburt, führte er heimlich seine Beziehung zu Marcia fort. Er führte ein Doppelleben, lebte in zwei Haushalten, in zwei Familien. Er verfing sich in einem Netz aus Lügen, und wenn er zur Rede gestellt wurde, ersetzte er die alten Lügen nur durch neue. Zwei Jahre nach Chris' Geburt zeugte Walt mit Marcia einen weiteren Sohn - Quinn McCandless. Als Walts Doppelleben aufflog, rissen die ans Tageslicht gekommenen Wahrheiten tiefe Wunden. Alle Beteiligten durchlebten eine schreckliche Zeit.
    Schließlich zogen Walt und Billie mit Chris und Carine an die Ostküste. Die Scheidung von Marcia war endlich vollzogen; Walt und Billie konnten heiraten. Alle versuchten so gut wie möglich, einen Strich unter die Vergangenheit zu ziehen und wieder nach vorne zu blicken. Zwei Jahrzehnte vergingen. Man wurde weiser, übte sich in Nachsicht. Die Schuldgefühle, der Schmerz und die erbitterte Eifersucht verloren sich in der fernen Vergangenheit. Der Sturm schien sich gelegt zu haben. Und dann fuhr Chris 1986 nach El Segundo, klopfte an die Türen ehemaliger Nachbarn und erfuhr all die schmerzhaften Details dieser Ereignisse.
    »Chris war ein Typ, der über die Dinge brütete«, stellt Carine fest. »Wenn er irgendwie sauer war, sagte er es einem nicht gleich. Er behielt es für sich, schmorte vor sich hin und wurde nur noch wütender.« Genau dies scheint nach den Enthüllungen von El Segundo der Fall gewesen zu sein.
    Kinder sind in ihrem Urteil über ihre Eltern oft grausam und lassen nur selten Milde walten. Chris war diesbezüglich alles andere als eine Ausnahme. Mehr als andere Jugendliche tendierte er dazu, die Dinge schwarz - weiß zu sehen. Er maß seine Umgebung an einem strengen Moralkodex, dem keiner

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