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In die Wildnis

In die Wildnis

Titel: In die Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Krakauer
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Ich fuhr also bis Gig Harbor, ließ den Wagen stehen und erschnorrte mir eine Fahrt auf einem Lachsfischerboot.
    Die Ocean Queen war ein robustes Arbeitsboot ohne viel Schnickschnack. Aus den dicken, gelben Planken der Alaska - Zeder gebaut, war sie für Schleppnetzfahrten und für Sacknetzfang getakelt. Um mir meine Fahrt nach Norden zu verdienen, mußte ich lediglich in regelmäßigem Turnus das Steuerrad bewachen - alle zwölf Stunden eine Vier - Stunden - Wache. Außerdem half ich, die endlos langen Kurrleinen des Heilbuttfanggeschirrs einzuholen. Wir durchquerten in gemächlichem Tempo die Inside Passage, und die Fahrt verging in einem phantastisch - verschwommenen Gefühl der Vorfreude. Ich war unterwegs, ein inneres Gebot befolgend, dem ich mich nicht entziehen konnte, das ich nicht einmal verstand.
    Wir tuckerten die Straße von Georgia hoch, und das Wasser glitzerte in der Sonne. Steilwände säumten die Küste, dicht bewachsen von düster schimmernden Schierlingen, Igel - Aralien und Zedern, über uns kreisten die Möwen. Vor Malcolm Island teilte das Boot einen Schwarm von sieben Schwertwalen. Ihre mannshohen Rückenflossen durchschnitten die kristallene Oberfläche, und sie kamen so nah, daß man von der Reling aus auf sie spucken konnte.
    Als ich während unserer zweiten Nacht auf See mit dem Steuer in der Hand auf der Brücke stand, tauchte im Scheinwerferkegel des Schiffes plötzlich ein Großohrhirsch auf. Das Tier befand sich mitten im Fitz Hugh Sund. Es schwamm durch das kalte schwarze Wasser, mehr als eine Meile von der kanadischen Küste entfernt. Die Augen des Hirsches glühten rot im Scheinwerferlicht. Er schien am Ende seiner Kräfte, wahnsinnig vor Angst. Ich riß das Steuerrad nach Steuerbord, und das Boot glitt vorbei. Der Hirsch wurde von der Dünung des Kielwassers zweimal auf und nieder gewogen und verschwand schließlich in der Dunkelheit.
    Der größte Teil der Inside Passage besteht aus schmalen, fjordähnlichen Kanälen. Als wir aber Dundas Island hinter uns ließen, öffnete sich vor uns plötzlich der Horizont. Nach Westen hin war das Meer nun offen auf die ganze Weite des Pazifik. Das Boot hüpfte und rollte auf einer schweren, drei Meter hohen Westdünung. Wellen brachen über die Reling herein. Steuerbord voraus tauchte in der Ferne ein Gewirr von niedrigen, schroffen Felsgipfeln auf. Ich spürte, wie mein Puls schneller ging. Jene Berge blickten mich verheißungsvoll an. Hinter ihnen lag das Ziel meiner Träume. Wir waren in Alaska angekommen.
    Fünf Tage, nachdem wir Gig Harbor verlassen hatten, gingen wir in Petersburg vor Anker, um zu tanken und die Wasservorräte aufzufüllen. Ich überquerte das Schanzdeck, nahm meinen schweren Rucksack und ging den Kai hinunter. Es regnete. Ohne zu wissen, wie es weitergehen würde, suchte ich unter dem Vordach der Stadtbücherei Zuflucht und setzte mich auf mein Gepäck.
    Petersburg ist ein kleines, für alaskanische Verhältnisse recht sauberes, schmuckes Städtchen. Eine große, schlaksige Frau kam vorbei und sprach mich an. Sie hieß Kai, sagte sie, Kai Sandburn. Sie war fröhlich und aufgeschlossen, und es war leicht, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Ich erzählte ihr von meinem großen Vorhaben, und zu meiner Erleichterung lachte sie mich weder aus, noch wirkte sie befremdet. »Bei klarem Wetter«, sagte sie nur, »kann man den Thumb von hier aus sehen. Sieht schön aus. Er ist gleich da drüben, auf der anderen Seite vom Frederick Sund.« Sie wies mit dem Arm nach Osten, in Richtung einer niedrighängenden Wolkenfront.
    Kai lud mich zu sich nach Hause zum Essen ein. Später nahm ich meinen Schlaf sack und rollte ihn auf dem Boden aus. Noch lange nachdem sie eingeschlafen war, lag ich im Nebenzimmer wach und lauschte ihrem ruhigen, regelmäßigen Atem. Monatelang hatte ich mir eingeredet, daß mir die fehlende Wärme und Intimität in meinem Leben und der Mangel an einer echten menschlichen Verbindung nichts ausmachen würde. Aber bei der Freude, die ich in der Gegenwart dieser Frau verspürte - dem Klang ihres Lachens oder einer ihrer harmlosen Berührungen, wenn sie zum Beispiel ihre Hand auf meinen Arm legte - , dämmerte es mir langsam, daß ich mir da offensichtlich selbst etwas vormachte. Ich fühlte mich leer und verlassen.
    Petersburg liegt auf einer Insel, der Devil's Thumb auf dem Festland. Er erhebt sich aus einem kahlen, vereisten Plateau, dem sogenannten Stikine - Gletscherplateau, dessen Eismassen weit über die

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