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In die Wildnis

In die Wildnis

Titel: In die Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Krakauer
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befinden. Es war später Abend, und in dem fahlen Licht war mein Zelt für ihn nicht erkennbar. Alles Winken und Rufen war vergebens. Von dort oben war ich ungefähr so groß wie ein Kieselstein auf einem Felsen. Eine Stunde lang umkreiste er das Plateau und suchte vergeblich die kahlen Umrisse ab. Doch es muß dem Piloten hoch angerechnet werden, daß er den Ernst der Lage begriff und nicht aufgab. Ich wurde langsam panisch. Ich fummelte meinen Schlafsack an das Ende einer der Vorhangstangen und wedelte damit krampfhaft umher. Das Flugzeug legte sich scharf in die Kurve und kam direkt auf mich zu.
    Der Pilot brummte dreimal in rascher Folge dicht über mein Zelt hinweg und warf jeweils zwei Kartons ab. Minuten später verschwand das Flugzeug hinter einem Bergkamm, und ich war wieder allein. Über den Gletscher legte sich wieder völlige Stille, und ich fühlte mich plötzlich verloren, schutzlos ausgesetzt. Ich merkte, daß ich weinte, schämte mich meiner Tränen, und um der ganzen Flennerei ein Ende zu bereiten, fing ich an zu fluchen und mir mit Obszönitäten die Kehle wund zu schreien.
    Am Morgen des 11. Mai erwachte ich unter einem strahlend blauen Himmel, und mit nur sechs Grad minus war es relativ warm. Das schöne Wetter scheuchte mich förmlich aus meinem Schlafsack. Ich war zwar seelisch nicht darauf vorbereitet, bereits mit dem Aufstieg zu beginnen, packte aber in aller Eile meinen Rucksack, legte die Skier an und brach in Richtung Thumb auf. Zwei vorangegangene Alaska - Touren hatten mich gelehrt, daß Schönwetterperioden rar und von kurzer Dauer sind und daß man es sich nicht leisten konnte, sie ungenutzt verstreichen zu lassen.
    Am Rande des Gletscherplateaus kommt einem ein schmaler Hängegletscher entgegen. Wie eine Rampe führt er zur Nordwand hoch und schlängelt sich quer über sie hinweg. Mein Plan sah vor, dieser Rampe bis an einen großen, schiffsbugartig gewölbten Vorsprung auf mittlerer Höhe zu folgen und dadurch einen Bogen um die bedrohliche, ständig von Lawinen überrollte untere Hälfte der Wand zu schlagen.
    Die Rampe stellte sich als eine Serie von im Fünfzig-Grad - Winkel ansteigenden Eisfeldern heraus, die von Gletscherspalten durchzogen und mit knietiefem Pulverschnee bedeckt sind. Durch den Schnee kam ich nur mühsam voran. Als ich mich drei, vier Stunden später mit meinen Eispickeln die überhängende Wand des Bergschrunds hocharbeitete, war ich bereits am Ende meiner Kräfte. Und dabei lag die eigentliche Kletterarbeit noch vor mir. Direkt über mir ging der Gletscher in eine vertikale Felswand über.
    Ein Blick nach oben war wenig ermutigend. Das Felsgestein war von einer bröckeligen, fünfzehn Zentimeter dicken Schicht Rauhfrost überzogen und zeichnete sich vor allem durch den Mangel an Griffen und Tritten aus. Gleich links der großen gewölbten Ausbuchtung entdeckte ich jedoch eine flache Nische. Sie war mit einem Eisband aus gefrorenem Schmelzwasser überzogen, das in gerader Linie hundert Meter weit nach oben führte. Wenn das Eis sich als fest genug erwies und nicht gleich unter der Wucht meiner Eispickel zerbröckelte, wäre dies vielleicht eine gangbare Route. Ich schob mich zu einer Stelle unterhalb der Nische vor und stach einen Eispickel vorsichtig in das fünf Zentimeter dicke Eis. Es war fest und von guter Konsistenz, etwas dünner, als ich es mir gewünscht hätte, aber insgesamt vielversprechend.
    Ich war der Nordwand nun schutzlos ausgeliefert, und der Aufstieg war dermaßen steil, daß mir schwindlig wurde. Unter meinen Vibram - Sohlen fiel die Wand eintausend Meter tief in das schmutzige, von Lawinen zerrissene Kar des Witches - Cauldron - Gletschers. Über mir wölbte sich der Fels in wuchtigem Schwung zum Gipfelkamm hinauf. Bis dahin waren es jedoch noch achthundert senkrechte Meter. Mit jedem Schwung meiner Eispickel verkürzte sich diese Distanz um fünfzig Zentimeter.
    Alles, was mich vor dem Abgrund bewahrte und mich in dieser Welt hielt, waren zwei kleine Spitzen aus Chrom - Molybdänstahl, etwa zwei Zentimeter tief in Schmelzeis gehauen. Dennoch, je höher ich stieg, desto sicherer fühlte ich mich. Zu Beginn einer schwierigen Besteigung, insbesondere einer schwierigen Alleinbesteigung, sitzt einem ständig dieser furchterregende Abgrund im Nacken. Um sich der Sogwirkung, die er ausübt, zu entziehen, darf der Kletterer in seiner Konzentration nicht einen Augenblick nachlassen. Der Sirenengesang der Leere zermürbt einen, läßt einen in den

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