In die Wildnis
Glorienschein getaucht, der alles wie in einem schimmernden Relief gestochen scharf heraustreten ließ - von der geschwungenen Bergwand über die orangenen und gelben Felsenflechten bis zu den hohen Wolkenformationen. Ich fühlte mich dem Leben plötzlich so nah, spürte sein rhythmisches Atmen. Die Welt war echt und greifbar geworden.
1977 saß ich auf einem Barhocker in Colorado, brütete vor mich hin und kratzte an meinen existentiellen Wunden und Narben. Plötzlich kam mir die Eingebung, den sogenannten Devil's Thumb zu besteigen. Bei dem Berg handelt es sich um einen Einschluß von dioritischem Eruptivgestein, der von vorzeitlichen Gletschern zu einem Gipfel von ungeheuren, spektakulären Ausmaßen geformt wurde. Von Norden her wirkt er besonders imposant: Aus einem weiten Gletscherplateau ragt jäh und spitz die große, damals noch unbezwungene Nordwand in eine Höhe von knapp zweitausend Metern empor, doppelt so hoch wie El Capitan im Yosemite Park. Ich würde also nach Alaska gehen, von der Küste aus auf Skiern dreißig Meilen über Glazialeis wandern und die mächtige Nordwand besteigen. Und zwar allein.
Ich war dreiundzwanzig, ein Jahr jünger als McCandless, als er in die Wildnis von Alaska auszog. Die Überlegungen, die ich dabei anstellte - falls man sie denn so nennen kann - , waren ebenso konfus wie die jugendliche Leidenschaft, an der sie sich entzündet hatten. Ich verschlang damals gerade im Übermaß die Werke von Nietzsche, Kerouac und John Menlove Edwards. Bei dem letzteren handelt es sich um einen zutiefst verstörten Schriftsteller und Psychiater, der, bevor er sich 1958 mit einer Kapsel Zyankali das Leben nahm, einer der herausragenden britischen Bergsteiger seiner Zeit war. Edwards betrachtete Bergsteigen als eine »psychoneurotische Neigung«. Er kletterte nicht um des Sports willen, sondern um vor der quälenden inneren Unruhe Zuflucht zu finden, die ihn zeitlebens beherrschte.
Noch während ich an dem Plan bastelte, den Thumb zu besteigen, ahnte ich dunkel, daß die Sache vielleicht eine Nummer zu groß für mich sei. Aber das machte das Projekt nur noch reizvoller. Daß die Sache kein Kinderspiel werden würde - darum ging's ja gerade.
Ich hatte ein Buch, in dem der Devil's Thumb abgebildet war. Die Schwarz weiß - Aufnahme stammte von Maynard Miller, einem bedeutenden Glaziologen. In Millers Luftaufnahme wirkte der Berg besonders bedrohlich: eine riesige, schuppige Gesteinsflosse, dunkel und eisverschmiert. Das Bild übte eine beinahe pornografische Faszination auf mich aus. Was für ein Gefühl das wohl sein muß, fragte ich mich, auf diesem schmalen, klingenförmigen Gipfelkamm zu stehen? Sich zusammengekauert gegen den Wind zu stemmen, der klirrenden Kälte zu trotzen? In der Ferne drohen die Sturmwolken, links und rechts nur der jähe Abgrund. Konnte ein einzelner Mensch das Entsetzen, das einen bei so was packt, überhaupt aushalten, bis er rauf und wieder runtergeklettert war?
Und was wäre, wenn ich es tatsächlich schaffte... Ich hatte Angst, mir den Triumph danach vorzustellen, und wollte das Schicksal nicht herausfordern. Aber ich zweifelte keine Sekunde lang daran, daß die Besteigung des Devil's Thumb mein Leben von Grund auf verändern würde. Wie könnte es anders sein?
Ich arbeitete damals vorübergehend als Schreiner auf einer Baustelle in Boulder für drei Dollar fünfzig die Stunde. Wir zogen Grundgerüste für Apartmenthäuser hoch. Eines Nachmittags, nachdem ich neun Stunden lang Balken geschleppt und Zwanzig - Zentimeter - Nägel ins Holz gehämmert hatte, sagte ich zu meinem Boß, daß ich den Job schmeißen würde. »Nein, nicht in ein paar Wochen, Steve. Ich meine, jetzt gleich.« Innerhalb von ein paar Stunden hatte ich meine Werkzeuge und meine Sachen aus dem klapprigen Bauwagen geholt, in dem ich gehaust hatte. Dann stieg ich in meinen Wagen und brach nach Alaska auf. Ich war wie immer überrascht davon, wie leicht es letztlich war, einen Schlußstrich unter etwas zu ziehen, und wie gut man sich dabei fühlte. Die Welt mit all ihren Möglichkeiten stand mir plötzlich wieder offen.
Der Devil's Thumb markiert die Grenze zwischen Alaska und British - Columbia. Er liegt östlich von Petersburg, einem Fischerdorf, das nur mit dem Schiff oder per Flugzeug zu erreichen ist. Es gab zwar einen Pendelflugverkehr dorthin, aber außer meinem igöoer Pontiac Star Chief besaß ich nur zweihundert Dollar in bar, was nicht einmal für einen einfachen Hinflug reichte.
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