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In die Wildnis

In die Wildnis

Titel: In die Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Krakauer
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Kammlinie der Boundary Ranges hinausreichen. Von weitem wirkt er wie ein labyrinthähnliches, von Einkerbungen übersätes Rückenschild einer Schildkröte. Zahlreiche blaugefärbte Gletscherzungen schieben sich unter der riesigen Last der Jahrtausende Zentimeter um Zentimeter zum Meer vor. Zwischen mir und dem Fuß des Berges lagen fünfundzwanzig Meilen Salzwasser und der Baird, ein dreißig Meilen langes Gletschertal. Ich mußte also nur eine Überfahrt organisieren und dann auf Skiern das Gletschertal durchwandern, das, wie ich vermutete, schon seit vielen, vielen Jahren von keinem Menschen mehr betreten worden war.
    Drei Baumpflanzer nahmen mich an den Rand der Thomas Bay mit und setzten mich an einem Kiesstrand an Land. Eine Meile vor mir konnte ich den breiten, von Eisschutt übersäten Gletscher erkennen. Eine halbe Stunde später arbeitete ich mich mühsam das Zungenende hoch und trat meinen langen Marsch auf den Thumb an. Der Gletscher trug keinen Schnee und war in eine Mulde aus grobem Kies gebettet, der unter den Zacken meiner Steigeisen knirschte.
    Nach drei oder vier Meilen erreichte ich die Schneelinie und tauschte die Steigeisen gegen Skier aus. Mit den Brettern an den Füßen verringerte sich meine Gepäcklast um fünf Kilo. Es ging nun schneller voran. Unter dem Schnee lauerten jedoch tückische Gletscherspalten.
    Auf der Hinreise hatte ich in weiser Voraussicht an einer Eisenwarenhandlung in Seattle haltgemacht und zwei dicke, je drei Meter lange Vorhangstangen aus Aluminium gekauft. Ich band die Stangen über Kreuz zusammen und befestigte sie an dem Hüftgürtel meines Rucksacks. Die Stangen hingen horizontal an meinem Körper über dem Schnee. Ich kam mir wie ein seltsamer Büßermönch vor, schwerbeladen, mit einem lächerlichen Metallkreuz, das an mir baumelte. Falls ich jedoch über einer dieser tückischen Gletscherspalten durch die Schneedecke brach, würden die Vorhangstangen - wie ich inständig hoffte - sich über den Schlitz legen und mich davor bewahren, von den eisigen Tiefen des Baird verschluckt zu werden.
    Zwei Tage lang stapfte ich beharrlich das Gletschertal hoch. Das Wetter war schön, und mein Weg lag gerade vor mir, frei von nennenswerten Hindernissen. Da ich aber allein war, gewannen mit der Zeit auch die banalsten Umstände eine tiefe, mysteriöse Bedeutung. Das Eis wirkte kälter und geheimnisvoller, der Himmel schien von einem klareren Blau. Die namenlosen, über dem Gletscher hochaufragenden Gipfel wirkten höher, anmutiger und unendlich bedrohlicher. Und auch meine Gefühlsregungen waren von doppelter Intensität: die Hochgefühle waren höher, Verzweiflungsphasen um so dunkler und abgründiger. Auf einen bis zum Letzten entschlossenen jungen Mann, trunken von dem Drama seines Lebens, übte all dies eine enorme Anziehungskraft aus.
    Drei Tage, nachdem ich Petersburg verlassen hatte, kam ich am Fuße des Stikine - Gletscherplateaus an, wo der lange Arm des Baird in den Eiskuchen des Hauptgletschers übergeht. Der Gletscher kommt über den scharfkantigen Rand eines Hochplateaus gezüngelt und fällt wie in einer Phantasmagorie aus zertrümmertem Eis in eine von zwei Steilhängen flankierte Schlucht hinab. Als ich eine Meile entfernt wie gebannt auf dieses tumultartige Schauspiel starrte, überkam mich zum ersten Mal, seit ich Colorado verlassen hatte, wirkliche Angst.
    Der Eisfall war kreuzweise von Gletscherspalten und den wankenden Pfeilern eines Eisbruchs durchschnitten. Von weitem fühlte ich mich an die Trümmerhaufen nach einem schweren Zugunglück erinnert, so als wären am Gletschersaum gespenstische weiße Waggons entgleist und einfach den Hang hinuntergepurzelt. Je näher ich kam, desto unfreundlicher wirkte das Ganze. Angesichts von fünfzehn Meter breiten und Hunderte von Metern tiefen Gletscherspalten kam ich mir mit meinem selbstgebastelten Stangenkreuz ein wenig verloren vor. Noch bevor ich mir Gedanken über eine gangbare Route durch den Eisfall machen konnte, kam ein heftiger Wind auf, und es fing an zu schneien. Der Schnee blies mir ins Gesicht und brannte auf meiner Haut. Die Sichtweite reduzierte sich auf ein Minimum.
    Himmel und Erde schienen ineinanderzufließen, und den größten Teil des Tages tappte ich blind in dem Labyrinth umher, verfolgte meine Schritte von einer Sackgasse in die nächste zurück. Immer wieder glaubte ich, einen Weg ins Freie gefunden zu haben, nur um in einer weiteren tiefblauen Sackgasse hängenzubleiben oder auf dem Scheitel

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