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In die Wildnis

In die Wildnis

Titel: In die Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Krakauer
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verschwommenen Bilder anzuschauen. Immer wieder bricht sie dabei zusammen, weint, wie nur eine Mutter weinen kann, die ihr eigenes Kind überlebt hat. Ihre Tränen zeugen von einem entsetzlichen, irreparablen Verlust, der sich jeder Beschreibung entzieht. Wer solche Trauer aus nächster Nähe miterlebt, hat fürs erste die Nase voll von all den ausgefeilten Rechtfertigungen für hochriskante Extremtouren. Sie klingen albern und hohl.
    »Ich kann einfach nicht verstehen, warum er sich solchen Gefahren aussetzen mußte«, protestiert Billie unter Tränen. »Ich kann es wirklich nicht verstehen.«

Das Stikine - Gletscherplateau I

    KAPITEL VIERZEHN
    Als Kind strotzte ich vor Lebenskraft, aber schon damals war ich besessen von einer fiebrigen Sehnsucht. Ich wollte stets mehr vom Leben, suchte nach etwas Greifbarem. Ich sehne mich nach Wirklichkeit, so, als ob sie nicht da wäre...
    Man sieht jedoch gleich, was ich tue. Ich gehe in die Berge und erklimme ihre Gipfel.
    JOHN MENLOVE EDWARDS,
 »LETTER FROM A MAN«
      
    Ich kann nicht mehr genau sagen - es ist schon lange her-, unter welchen Umständen ich zum ersten Mal hinaufgestiegen bin, ich weiß nur noch, daß mich während des Wanderns ein Zittern ergriff (ich habe eine vage Erinnerung daran, alleine unter freiem Himmel übernachtet zu haben), - dann stieg ich kontinuierlich einen felsigen Bergkamm hinauf, auf dem vereinzelt karge Bäume wuchsen und wilde Tiere lebten, bis ich mich in der Höhe und den Wolken verlor und die unsichtbare Grenze zu überqueren glaubte, die einen Hügel, der nichts anderes ist als eine Haufen Erde, von einem Berg trennte: Ich befand mich in überirdischer Pracht und Erhabenheit. Der Gipfel hebt sich von der irdischen Grenze ab, weil er unberührt, eindrucksvoll, großartig ist. Er wird einem nie vertraut werden; in dem Moment, in dem man seinen Fuß dorthin setzt, ist man schon verloren. Man kennt den Weg, doch man läuft erregt über den kahlen, unwegsamen Felsen, als handele es sich um verfestigte Luft und Wolken. Dieser felsige Gipfel, in Dunst gehüllt und von Wolken verborgen, ist weitaus eindrucksvoller, fesselnder und erhabener als ein Vulkankrater, der Feuer spuckt.
    HENRY DAVID THOREAU,
 »JOURNAL«
      
      
    Auf seiner letzten Postkarte an Wayne Westerberg hatte McCandless geschrieben: »Dieses Abenteuer geht vielleicht tödlich aus, und es kann sein, daß Du nie wieder von mir hören wirst. Ich möchte aber, daß Du weißt, wie sehr ich Dich bewundere. Ich breche nun in die Wildnis auf.« Als das Abenteuer dann tatsächlich tödlich ausging, gab diese dramatische Äußerung Anlaß zu der Spekulation, daß der Junge partout Selbstmord begehen wollte, daß er, als er in die Wildnis auszog, nie vorhatte, sie lebend wieder zu verlassen. Ich bin mir da jedoch nicht so sicher.
    Ich glaube nicht, daß McCandless seinen Tod geplant hatte. Ich glaube, es war ein tragischer Unfall. Meine Vermutung stützt sich vor allem auf die wenigen Dokumente, die er hinterließ, aber auch auf die Berichte der Männer und Frauen, mit denen er während des letzten Jahres seines Lebens Kontakt hatte. Aber auch mein Verständnis von McCandless' Beweggründen entspringt einer eher persönlichen Sichtweise.
    Ich muß in meiner Jugend, wie ich immer wieder höre, ein störrischer, unzugänglicher, launischer und oft auch leichtsinniger Bursche gewesen sein. Mein Vater hatte bestimmte Hoffnungen in mich gesetzt, die ich ein ums andere Mal enttäuschte. Wie bei Chris McCandless erregten männliche Führerfiguren in mir eine verwirrende Mischung aus verklemmter Wut und dem Verlangen, es ihnen recht zu machen. Wenn meine unbändige Phantasie von etwas gefangengenommen wurde, verfolgte ich es mit einem Eifer, der an Besessenheit grenzte. Zwischen siebzehn und Ende Zwanzig war dieses Etwas Bergsteigen.
    Von früh bis spät träumte ich davon, die fernen Berge Alaskas und Kanadas zu erklimmen - bis ich sie schließlich tatsächlich erklomm. Es handelte sich dabei meist um irgendwelche obskuren Gipfel, die steil und furchteinflößend waren, von denen aber bis auf eine Handvoll Kletterfreaks kein Mensch je gehört hatte. Meine Besessenheit hatte jedoch auch seine guten Seiten. Während ich wie gebannt von einem bestiegenen Gipfel zum nächsten schaute, gelang es mir, die nebelumschleierten Klippen der Pubertät heil und unversehrt zu durchschiffen. Berg steigen war etwas, das zählte. Durch die ständig lauernde Gefahr wurde die Welt in einen grellen

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