In die Wildnis
Jungs in der Firma ihn mit irgendwas aufgezogen - vielleicht haben sie ihm gesagt, sie hätten mich mit einem anderen Mann gesehen oder so. Ich hab gelacht und gefragt:
›Machen die Jungs dir mal wieder das Leben schwer?‹ Aber er hat nicht zurückgelacht. Dann hat er aufgeschaut. Er hatte ganz rote Augen.«
»Es geht um deinen Bruder«, sagte Fish. »Sie haben ihn gefunden. Er ist tot.« Sam, Walts ältester Sohn, hatte Fish in der Firma angerufen und es ihm gesagt.
Carine wurde plötzlich schwarz vor Augen. Sie schüttelte mechanisch den Kopf, immer wieder. »Nein«, sagte sie fest, »Chris ist nicht tot.« Dann fing sie an zu schreien. Ihr Schluchzen und Klagen war so laut und anhaltend, daß Fish befürchtete, die Nachbarn würden meinen, er schlage sie, und die Polizei rufen.
Carine rollte sich wie ein Fötus auf dem Sofa zusammen. Als Fish sie trösten wollte, stieß sie ihn weg und schrie ihn an, daß er sie in Ruhe lassen solle. Sie verharrte fünf Stunden so, von Weinkrämpfen geschüttelt. Um elf hatte sie sich wieder einigermaßen im Griff. Sie packte schnell ein paar Sachen zusammen und ließ sich von Fish zu Walt und Billie nach Chesapeake Beach bringen, das etwa vier Stunden entfernt liegt.
Als sie Virginia Beach verließen, bat Carine Fish, bei ihrer Kirche anzuhalten. »Ich ging hinein und setzte mich eine Stunde oder so vor den Altar. Fish hat im Wagen auf mich gewartet«, weiß Carine noch. »Ich wollte ein paar Antworten von Gott. Aber ich bekam keine.«
Ein paar Stunden zuvor hatte Sam bestätigt, daß es sich bei dem aus Alaska gefaxten Foto des unbekannten Trampers tatsächlich um Chris handelte. Der Leichenbeschauer in Fairbanks forderte jedoch Chris' zahnärztliche Unterlagen an, um die Leiche definitiv identifizieren zu können. Der Vergleich der Röntgenbilder nahm einen weiteren Tag in Anspruch. Billie weigerte sich, das gefaxte Foto anzuschauen. Sie wollte die Ergebnisse der dentalen Identifizierung abwarten, um einen eindeutigen Beweis zu haben, daß der Junge, der in dem Bus am Sushana River verhungerte, tatsächlich ihr Sohn war.
Am nächsten Tag flogen Sam und Carine nach Fairbanks, um Chris' sterbliche Reste zu überführen. Im Büro des Leichenbeschauers wurden ihnen die wenigen, mit der Leiche sichergestellten Sachen ausgehändigt: Chris' Gewehr, ein Fernglas, die Angel, die Ronald Franz ihm geschenkt hatte, eines der Schweizer Armeemesser, die er von Jan Burres hatte, das Pflanzenkundebuch, in dem er Tagebuch geführt hatte, eine Minolta und fünf Rollen Film - mehr nicht. Der Leichenbeschauer schob ihnen ein paar Unterlagen über den Tisch zu, und Sam schob sie unterschrieben zurück.
Knapp vierundzwanzig Stunden nach ihrer Ankunft in Fairbanks flogen Carine und Sam nach Anchorage weiter. Chris' Leiche war dort nach der Autopsie im gerichtsmedizinischen Institut eingeäschert worden. Der Verantwortliche der Leichenhalle schickte ihnen Chris' Asche in einer Plastikdose ins Hotel. »Ich war erstaunt, wie groß die Dose war«, sagt Carine. »Sein Name war falsch geschrieben. Auf dem Aufklebeschildchen stand Christopher R. MCCANDLESS. Seine mittlere Initiale war in Wirklichkeit J . Es hat mich wahnsinnig gemacht, daß die das nicht hingekriegt haben. Ich wäre beinahe an die Decke gegangen vor Wut. Dann dachte ich nur: ›Chris wär's egal. Er würde es höchstens witzig finden.‹«
Am nächsten Morgen flogen sie nach Maryland. Carine hatte die Asche ihres Bruders in ihrem kleinen Rucksack verstaut.
Auf dem Heimflug aß Carine alles, was ihr von den Flugbegleitern vorgesetzt wurde, bis auf den letzten Krümel auf, »obwohl es«, wie sie sagt, »dieses gräßliche Zeugs war, das sie einem in Flugzeugen servieren. Chris war verhungert, und der Gedanke, Essen zu verschwenden, war mir einfach unerträglich.«In den Wochen darauf mußte sie jedoch feststellen, daß sie kaum noch einen Bissen herunterkriegte. Sie nahm zehn Pfund ab, und ihre Freunde befürchteten bereits, daß sie an Magersucht litt.
Billie, die in Chesapeake Beach zurückgeblieben war, konnte ebenfalls nichts mehr essen. Die zierliche Achtundvierzigjährige mit den mädchenhaften Zügen verlor acht Pfund, bevor ihr Appetit schließlich zurückkehrte. Walt reagierte genau umgekehrt: er begann zwanghaft zu essen und nahm acht Pfund zu.
Einen Monat später sitzt Billie am Eßzimmertisch und sichtet die fotografischen Zeugnisse von Chris' letzten Tagen. Sie muß sich direkt überwinden, die unscharfen,
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