In die Wildnis
jedoch den Flammen. Das Zelt war also immer noch wasserdicht, allerdings war es drinnen jetzt ungefähr fünfzehn Grad kälter.
Meine Hand fing an zu schmerzen. Ich untersuchte sie und bemerkte eine rosafarbene Brandverletzung. Aber das Schlimmste war, daß es gar nicht mein Zelt war: Ich hatte das gute und teure Stück von meinem Vater geborgt. Es war nagelneu - das Preisschild hatte noch drangehangen - , und er hatte es mir nur ungern geliehen. Die ersten Minuten saß ich wie gelähmt da und starrte auf das, was von dem einst so würdevollen Zelt noch übrig war. Es stank penetrant nach verbrannten Haaren und geschmolzenem Plastik. Eins mußte man mir lassen, dachte ich: Ich war ein wahres Genie darin, meinen Vater in seinen schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen.
Mein Vater war ein impulsiver, äußerst schwieriger Mensch. Er hatte eine forsche Art, hinter der er aber nur seine tiefe Unsicherheit verbarg. Falls er jemals in seinem Leben einen Irrtum zugegeben haben sollte, habe ich nichts davon mitbekommen. Aber er - selbst ein Wochenend - Bergsteiger - war es, der mir das Klettern beibrachte. Als ich acht war, kaufte er mir mein erstes Seil und meinen ersten Eispickel. Er führte mich in die Cascade Range, und ich durfte mich an die South Sister wagen, einen sanft ansteigenden, dreitausend Meter hohen Vulkan, der nicht allzu weit entfernt von unserem Wohnort in Oregon lag. Er wäre nie darauf gekommen, daß die Kletterei eines Tages mein Lebensinhalt werden würde.
Lewis Krakauer war ein liebenswürdiger und großzügiger Mensch, der seine fünf Kinder - auf autokratischväterliche Art - aufrichtig liebte, aber seine Sicht der Dinge war von einem unbarmherzigen Konkurrenzdenken geprägt. Das Leben, so wie er es sah, war ein Wettkampf. Er las immer wieder die Werke von Stephen Potter - dem englischen Schriftsteller, der in seinen Büchern Begriffe wie »Kampf um die Spitze« und »ehrlicher Betrug« geprägt hatte - , und zwar nicht im Sinne einer Sozialsatire, sondern als Handbuch mit praktischen Lebensstrategien. Mein Vater war ehrgeizig bis zum Äußersten, und ganz wie bei Walt McCandless setzte sich sein Ehrgeiz in seinen Kindern fort.
Noch bevor ich meinen ersten Kindergartenplatz bekam, bereitete er mich auf eine glänzende Medizinerkarriere vor. Falls das schiefgehen sollte, hätte er sich, als schwachen Trost, vielleicht auch mit einer Laufbahn als Anwalt abgefunden. Zu Weihnachten und zu meinen Geburtstagen bekam ich Dinge wie ein Mikroskop, eine Chemielaborausrüstung und die »Encyclopaedia Britannica« geschenkt. Von der Grundschule bis zur High-School wurden meine Geschwister und ich darauf getrimmt, Klassenbeste zu sein, auf wissenschaftlichen Nachwuchsveranstaltungen Medaillen zu gewinnen, zur Abschlußballkönigin erkoren und zum Schulsprecher gewählt zu werden. So und nur so, wurde uns beigebracht, würde es uns gelingen, in das richtige College aufgenommen zu werden, wodurch wir wiederum auf die Harvard Medical School kämen: der Ausgangspunkt zu einem glücklichen, erfolgreichen Leben.
Mein Vater ließ sich in seinem Glauben an diesen einen vorgezeichneten Weg durch nichts erschüttern. Denn schließlich war es ja der Weg, der ihm zu Wohlstand verhelfen hatte. Aber ich war nicht der Klon meines Vaters. Als ich mir als Jugendlicher dieser Tatsache bewußt wurde, wich ich vom vorgegebenen Kurs ab, erst ganz zögernd, dann im Neunzig - Grad - Winkel. Mein Aufstand führte zu jeder Menge Geschrei im Haus. Die Wände unseres Hauses wackelten unter dem Donner von Ultimaten. Schließlich verließ ich Corcallis, Oregon, und schrieb mich an einer abgelegenen Universität ein, ohne Efeu an altehrwürdigen Mauern. Mit meinem Vater sprach ich zu diesem Zeitpunkt, wenn überhaupt, nur noch mit zusammengebissenen Zähnen. Als ich vier Jahre später mein Grundstudium abschloß und weder nach Harvard noch an sonst irgendeine Medizinfakultät ging und statt dessen Schreiner und mittelloser Klettermaxe wurde, wuchs die tiefe Kluft zwischen uns ins Unermeßliche.
Man hatte mir sehr früh ungewöhnlich viel Freiheit zugestanden und Verantwortung übertragen, wofür ich außerordentlich dankbar hätte sein sollen, aber ich war's nicht. Statt dessen fühlte ich mich von den Erwartungen meines alten Herrn erdrückt. Es war mir eingebleut worden, daß nur der Sieg zählte und alles andere Versagen war. Als leicht zu beeindruckender Sohn faßte ich seine Sprüche und Maximen nicht etwa rhetorisch auf; ich
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