In die Wildnis
Knappheit, dennoch ist der darinliegende Jubel unverkennbar:
»BERG BESTIEGEN!«
McCandless hatte Gallien erzählt, er wolle während seines Aufenthalts in den Wäldern ständig unterwegs sein. »Ich werd einfach losziehen und immer weiter in Richtung Westen wandern«, hatte er gesagt. »Vielleicht schaffe ich es ja sogar bis zum Beringmeer.« Nachdem er sich vier Tage lang in und um den Bus ausgeruht hatte, nahm er am 5. Mai seine Wanderungen wieder auf. Oberhalb des Busses verliert sich der Stampede Trail ein wenig, und aus den mit der Minolta sichergestellten Fotos geht hervor, daß McCandless den Pfad aus den Augen verlor (oder absichtlich davon abwich). Er wanderte nach Nordwesten durch das Hügelgebiet oberhalb des Sushana River. Unterwegs bemühte er sich immer wieder zu jagen und sich so gut wie möglich mit Wild einzudecken.
Er kam nur mühsam voran. Jeden Tag verbrachte er viele Stunden damit, sich an Wild heranzupirschen. Darüber hinaus taute nun auch der Boden auf, und seine Wanderwege verwandelten sich in einen Irrgarten aus Sümpfen und undurchdringlichen Erlenbüschen. McCandless lernte einen der wichtigsten (wenn auch scheinbar widersprüchlichen) Grundsätze des Nordens schätzen: der Winter, nicht der Sommer, ist die beste Jahreszeit, um über Land zu wandern.
Bis an die Küste des Beringmeers waren es noch gut und gerne fünfhundert Meilen, und als McCandless klar wurde, welch einen Schwachsinn er sich da ausgedacht hatte - daß er dort nie und nimmer ankommen würde - , änderte er seine Pläne. Als er am 19. Mai den gerade einmal fünfzehn Meilen entfernten Toklat River erreichte, kehrte er wieder um. Eine Woche später stand er wieder vor der alten Busruine, offensichtlich ohne seinen Entschluß zu bedauern. Er war zu der Ansicht gelangt, daß das Abflußgebiet um den Sushana River Wildnis genug sei, zumindest für seine Zwecke, und daß Bus Nr. 142 der Fairbanker Verkehrsgesellschaft für den Rest des Sommers ein großartiges Basislager abgeben würde.
Ironischerweise ist das Gebiet um den Bus - das kleine, von üppigem Pflanzenwuchs bedeckte Fleckchen, auf dem McCandless sich »in der Wildnis verlieren« wollte - kaum als Wildnis anzusehen, zumindest nicht für alaskanische Verhältnisse. Keine dreißig Meilen östlich davon verläuft eine der Hauptverkehrsadern Alaskas, der George Parks Highway. Nur sechzehn Meilen entfernt, hinter einem Ausläufer der Outer Range, rollen täglich Hunderte von Touristen über eine von den Forstbehörden kontrollierte Straße in den Denali - Park. Und - was der ästhetische Wanderer der Welten nicht wußte - im Radius von sechs Meilen um dem Bus herum liegen vier Blockhütten verstreut (die allerdings im Sommer '92 alle unbewohnt waren).
Aber auch wenn der Bus von Zivilisation umgeben war, so war McCandless im Grunde vom Rest der Welt abgeschnitten. Er verbrachte alles in allem vier Monate allein in der Wildnis, und in dieser Zeit traf er nicht einen einzigen Menschen. Letztlich war die Gegend um den Sushana River abgelegen genug, um McCandless das Leben zu kosten.
Nachdem er in der letzten Maiwoche seine wenigen Habseligkeiten in den Bus verfrachtet hatte, fertigte McCandless auf einem pergamentähnlichen Stück Birkenrinde eine Liste mit zu erledigenden Hausarbeiten an: Eisstücke vom Fluß herbeitragen und lagern, um das Fleisch zu konservieren, die kaputten Fenster mit Plastikfolien abdecken, einen Vorrat an Brennholz anlegen, die Asche vom Vortag aus dem Ofen leeren. Und unter der Überschrift »Längerfristig« listete er seine ehrgeizigeren Projekte auf: eine Karte der Gegend anfertigen, eine Badewanne bauen, Felle und Federn zu Kleidungsstücken vernähen, verschiedene Reparaturen, eine Brücke über einen nahegelegenen Bach bauen, ein Wegenetz für die Jagd anlegen.
Die Tagebucheinträge nach seiner Rückkehr zum Bus zeugen von einem üppigen Speiseplan. 28. Mai: »Gourmet - Ente!« 1.Juni: »5 Eichhörnchen.« 2.Juni: »Stachelschwein, Schneehuhn, 4 Eichhörnchen, grauer Vogel.«
3.Juni: »Wieder ein Stachelschwein! 4 Eichhörnchen, 2 graue Vögel, aschgrauer Vogel.« 4. Juni: »STACHELSCHWEIN NUMMER DREI!, Eichhörnchen, grauer Vogel.« Am 5. Juni schoß er eine Kanadagans von den Ausmaßen eines Weihnachtstruthahns. Dann, am 9. Juni, landete er seinen großen Coup: »ELCH!« schrieb er in sein Tagebuch. Er kniete sich freudestrahlend über seine Trophäe und machte ein Foto von sich, das Gewehr triumphierend über den Kopf geschwungen,
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