In die Wildnis
ganz der stolze Jäger. Wie er so dasitzt, mit ekstatischer Freude in den Gesichtszügen und dem kindlichen Erstaunen in den Augen, wirkt er wie irgendein arbeitsloser Pförtner, der nach Reno gefahren ist und dort gleich den Jackpot mit einer Million Dollar geknackt hat.
McCandless war zwar pragmatisch genug, um zu wissen, daß, wer in und von der Wildnis leben will, zwangsläufig auch auf die Jagd angewiesen ist. Dennoch stand er dem Töten von Tieren von jeher skeptisch gegenüber. Diese Zwiespältigkeit sollte sich schon bald, nachdem er den Elch erlegt hatte, in eindeutige Reue verwandeln. Der Elch war zwar mit sechs - , siebenhundert Pfund relativ klein, dennoch war es eine riesige Menge Fleisch. McCandless war der festen Überzeugung, daß es moralisch unvertretbar ist, einen noch so geringen Teil von Tierfleisch verkommen zu lassen. Der Elch war schließlich zu Ernährungszwecken geschossen worden, und er verbrachte sechs Tage harter Arbeit damit, sein Fleisch vor dem Verderben zu bewahren. Er schlachtete den Kadaver unter einem Schwarm umhersurrender Fliegen und Moskitos aus und verarbeitete die Innereien zu einem Eintopf. Dann mühte er sich damit ab, an dem steinigen Flußufer unterhalb vom Bus eine Höhle auszuheben, um darin die riesigen, dunkelroten Fleischbrocken durch Räuchern haltbar zu machen.
In Alaska weiß jeder Jäger, daß Fleisch am einfachsten zu konservieren ist, wenn man es in dünne Scheiben schneidet und auf einem improvisierten Gestell lufttrocknet. In seiner Naivität verließ McCandless sich jedoch auf die Ratschläge von Jägern, die er in South Dakota befragt hatte. Dort hatte man ihm empfohlen, das Fleisch zu räuchern, was unter den hiesigen Bedingungen alles andere als einfach war.
»Schlachten sehr schwierig«, schrieb er am 10. Juni in sein Tagebuch. »Fliegen und Moskitoschwärme. Gedärme, Leber, Nieren, eine Lunge, Steaks entfernt. Hinterviertel und Bein zum Fluß gebracht.«
11. Juni: »Herz und andere Lunge entfernt. Vorderbeine und Kopf. Den Rest zum Fluß gebracht. Zur Höhle geschleppt. Versucht, mit Räuchern zu konservieren.«
12. Juni: »Halben Brustkorb und Steaks entfernt. Kann nur nachts arbeiten. Räucherstellen in Gang gehalten.«
13. Juni: »Rest von Brustkorb, Schulter und Hals zur Höhle gebracht. Mit Räuchern angefangen.«
14. Juni: »Maden! Räuchern scheint nichts zu bringen. Ratlos, sieht nach Fiasko aus. Ich hätte den Elch nicht schießen dürfen. Einer der schlimmsten Irrtümer meines Lebens.«
McCandless gab es nun auf, die Fleischmassen zu konservieren, und überließ den Kadaver den Wölfen. Obwohl er sich bittere Vorwürfe machte, ein Leben genommen und achtlos verschwendet zu haben, schien er am nächsten Tag wieder neuen Mut gefaßt zu haben. In sein Tagebuch schreibt er: »Von nun an werde ich lernen, mit meinen Fehlern und Irrtümern zu leben, wie schlimm sie auch sein mögen.«
Kurz nach dem Vorfall mit dem Elch begann McCandless, Thoreaus »Walden« zu lesen. In dem mit »Höhere Gesetze« überschriebenen Kapitel, in dem Thoreau über die Ethik des Essens nachsinnt, strich McCandless folgende Passage an: »... wenn ich meine Fische gefangen, gereinigt, gekocht und gegessen hatte, dann fühlte ich mich nicht sonderlich gesättigt. Es erschien mir als etwas Überflüssiges und Unnötiges, das soviel Mühe nicht wert war.«
»DER ELCH«, schrieb McCandless an den Rand. Und in dem gleichen Passus strich er an:
Die Abneigung gegen animalische Nahrung ist nicht aus einer Erfahrung herzuleiten, sondern als Instinkt zu begreifen. Es erschien mir richtiger, einfach und in mancher Hinsicht dürftig zu leben; wenn es mir auch praktisch nie ganz gelang, so hielt ich dieses Ziel doch hoch. Ich glaube, daß jeder Mensch, der ernstlich Wert darauf legt, seine höheren und dichterischen Fähigkeiten in ihrem besten Zustande zu bewahren, animalische Kost und größere Nahrungsmengen irgendwelcher Art überhaupt vermeidet...
Die Beschaffung und Zubereitung einer Diät, die so einfach und zuträglich ist, daß sie die Sinne nicht beleidigt, ist schwierig; aber diese, so denke ich, sollten mit dem Körper zugleich ernährt werden. Sie sollten beide von derselben Tafel speisen. Wäre das unmöglich? Essen wir in mäßiger Weise Früchte, so brauchen wir uns unseres Appetites nicht zu schämen und auch nicht zu befürchten, daß wir unsere höheren Ziele aus den Augen verlieren, füge jedoch deiner Speise ein Extragewürz bei, so wirst du dich
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