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In die Wildnis

In die Wildnis

Titel: In die Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Krakauer
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Nordseite und stieg am Ausgang der Schlucht wieder zum Fluß hinab.
    Als er den Fluß vor siebenundsechzig Tagen in der eisigen Aprilkälte durchquert hatte, war das Wasser zwar eiskalt, aber nur knietief gewesen, ein zahmer Bach, den er mühelos durchwatet hatte. Am 5.Juli jedoch war der Teklanika durch den Regen und die Schneeschmelze auf den Gletschern der Alaska Range zu einem mächtigen, reißenden Strom angeschwollen.
    Wenn er das andere Ufer erreichen könnte, wäre das restliche Stück zum Highway ein Kinderspiel, aber um dort hinzukommen, mußte er eine über dreißig Meter breite Flußbarriere überwinden. Das Wasser war durch die Glazialsedimente ganz trüb und hatte die Farbe von nassem Zement. Es war nur ein paar Grad wärmer als das Eis, aus dem es sich speiste, und viel zu tief, um durchwaten zu können. Der Fluß donnerte vorbei wie ein Güterzug. Die mächtige Strömung würde ihn rasch umreißen und forttragen.
    McCandless war kein guter Schwimmer, und er hatte einigen Leuten gegenüber zugegeben, daß er sogar Angst vor Wasser habe. Ans andere Ufer zu schwimmen oder den Fluß auf irgendeinem behelfsmäßigen Floß zu überqueren war bei dieser unbändigen, betäubend kalten Flut viel zu riskant, um auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden. Ein Stück stromabwärts von der Stelle, an der der Trail auf den Fluß stieß, zwängte sich der Teklanika durch eine enge Schlucht und entlud sich in brodelnde, wild aufschäumende Gischt. An Schwimmen und Paddeln war da gar nicht zu denken. Er würde sofort in diese Stromschnellen gerissen werden und ertrinken.
    In seinem Tagebuch schrieb er dazu: »Katastrophe ... Strömender Regen. Kann nicht weiter. Fluß unmöglich zu überqueren. Fühle mich einsam, habe Angst.« Er ging zu Recht davon aus, daß die Fluten ihn wohl in den Tod reißen würden, zumindest wenn er es an jener Stelle und zu diesem Zeitpunkt versuchte. Es wäre glatter Selbstmord; es war ganz einfach unmöglich.
    Wenn McCandless ungefähr eine Meile weiter stromaufwärts gewandert wäre, hätte er gesehen, wie der Fluß sich in ein weitläufiges Geflecht aus zahllosen kleinen Rinnen teilt. Wenn er dann noch sorgfältig gesucht hätte, hätte er durch Herumprobieren vielleicht sogar eine Stelle gefunden, wo diese Rinnen nur brusttief waren. Die Strömung hätte ihn zwar auch dann noch umgerissen, aber er hätte zumindest mit den Armen weiterpaddeln und sich hüpfend immer wieder gegen die Strömung stemmen können. Es ist gut möglich, daß er es so bis ans andere Ufer geschafft hätte, bevor er in die Schlucht gerissen worden oder an Unterkühlung zugrunde gegangen wäre.
    Es wäre jedoch immer noch eine riskante Angelegenheit gewesen, und zu diesem Zeitpunkt sah McCandless keinen Grund, ein solches Risiko einzugehen. Er hatte sich hier draußen auf dem Land bisher sehr gut alleine durchgeschlagen. Wahrscheinlich war ihm klar, daß es nur eine Frage der Zeit war, bis der Wasserstand sich normalisieren und der Fluß wieder passierbar würde. Nachdem er eine Weile abgewägt hatte, entschied er sich für die klügere Lösung. Er kehrte um und wanderte in Richtung Bus zurück, zurück in das launische, unberechenbare Herz der Wildnis.

Der Stampede Trail I

    KAPITEL SIEBZEHN
    Die Natur hier war zwar ungezähmt und schrecklich, doch wunderschön. Mit Ehrfurcht betrachtete ich den Grund, auf dem ich gewandelt war, um zu sehen, was die Mächte geschaffen hatten, die Form, das Wesen und die Beschaffenheit ihrer Arbeit. Das war die Erde, von der wir gehört haben, die entstanden ist aus dem Chaos und der Ewigen Nacht. Das hier ist nicht der Garten des Menschens, sondern einfach der unberührte Globus. Das war kein Rasen, keine Weide, keine Wiese, kein Wald, keine Aue, kein Acker, keine Wüste. Es war die frische und natürliche Oberfläche des Planeten Erde, gemacht wie für alle Ewigkeit - sozusagen als Zuhause für den Menschen -, von der Natur geschaffen, um vom Menschen nach Möglichkeit genutzt zu werden. Sonst war dem Menschen dort keine Rolle zugewiesen. Dies war Materie, unermeßlich, und kolossal; es war nicht des Menschen Mutter Erde, von der wir häufig gehört haben, nicht die Erde, auf der er herumläuft oder in der er begraben wird - nein, sogar seine Knochen dort hineinzulegen wäre zu vertraulich -, dies war das Zuhause von Notwendigkeit und Schicksal. Die Anwesenheit einer Macht, die dem Menschen keinen Gefallen schuldet, war deutlich zu spüren. Dies war der Ort von Barbarei und

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