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In die Wildnis

In die Wildnis

Titel: In die Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Krakauer
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vergiften!
    »JA«, schrieb McCandless, und zwei Seiten später:
    »Sich der Ernährung bewußt sein. Sich beim Kochen und Essen konzentrieren... Essen = heilig.«
    Auf der Rückseite des Buches, das ihm als Tagebuch diente, verkündete er:
    Ich bin wiedergeboren. Dies ist mein Morgengrauen. Das wahre Leben hat jetzt erst begonnen.
    Mit Besonnenheit leben: bewußte Aufmerksamkeit den elementaren Dingen des Lebens gegenüber, und eine ständige Aufmerksamkeit dem direkten Umfeld gegenüber und dem, was es einem abverlangt, Beispiel - › Ein Job, eine zu erledigende Aufgabe, ein Buch; alles, was nachhaltige Konzentration erfordert (die äußeren Umstände an sich sind unwichtig. Wichtig ist die eigene Einstellung zu einem Ereignis. Der wahre Sinn liegt in dem persönlichen Verhältnis zu einem Phänomen, was es einem bedeutet.)
    Die Große Heiligkeit von Lebensmitteln, das lebensspendende Feuer.
    Positivismus, die unübertreffbare Glückseligkeit der Lebensästhetik.
    Absolute Wahrheit und Ehrlichkeit. Wirklichkeit.
    Unabhängigkeit.
    Entschiedenheit - innere Festigkeit - Kontinuität.
    McCandless vergaß allmählich die Verschwendung des Elches, und die Zufriedenheit, die ihn seit Mitte Mai erfüllte, umfing ihn wieder und schien bis Anfang Juli anzuhalten. Dann wurde er jedoch durch den ersten von zwei folgenschweren Rückschlägen jäh aus dieser Idylle herausgerissen.
    McCandless hatte nun bereits zwei Monate allein in der Wildnis gelebt. Offenbar zufrieden mit dem, was er in dieser Zeit gelernt hatte, beschloß er, in die Zivilisation zurückzukehren: Es war an der Zeit, sein »letztes und größtes Abenteuer« zu beenden und sich wieder in die Welt der Männer und Frauen zu begeben, wo man ein Bier trinken, philosophieren oder seine Zuhörer mit Geschichten von seinen Abenteuern fesseln konnte. Er schien nicht mehr das Bedürfnis zu haben, weiter so unerbittlich auf seiner Unabhängigkeit zu beharren und sich von seinen Eltern zu lösen. Vielleicht war er ja gewillt, ihnen ihre Unzulänglichkeiten zu verzeihen; vielleicht war er sogar gewillt, die eine oder andere eigene Unzulänglichkeit zu verzeihen. McCandless schien, eventuell, bereit, heimzukehren.
    Vielleicht aber auch nicht. Wir können nur darüber spekulieren, was er sich für die Zeit nach seiner Rückkehr aus der Wildnis vornahm. Es steht jedoch zweifelsfrei fest, daß er zurückkehren wollte.
    Auf ein Stück Birkenrinde schrieb er eine Liste von Dingen, die er vor seiner Abreise noch zu erledigen hatte:
    »Jeans flicken, Rasieren! Packen...«
    Kurze Zeit später stellte er seine Minolta auf eine Öltonne und schoß ein Selbstporträt - sauber rasiert, die schmutzstarrende Jeans an den Knien mit Fetzen aus einer Armeedecke geflickt, grinst er in die Kamera und wedelt mit einem Einweg - Rasierer umher. Er sieht gesund aus, ist allerdings auch stark abgemagert. Die Wangen sind bereits eingefallen. Die Nackensehnen stehen wie zwei gespannte Telefondrähte heraus.
    Am 2. Juli las McCandless Tolstois »Familienglück« zu Ende, in dem er einige Passagen angestrichen hatte, die ihn besonders berührten:
    Mit Recht sagte Sergeej Michailowitsch, daß es im Leben nur ein unzweifelhaftes Glück gebe: für einen anderen zu leben.
    Ich habe viel erlebt, und glaube, daß ich jetzt das gefunden habe, was ich zu meinem Glück brauche. Ein stilles, zurückgezogenes Leben in unserer ländlichen Einsamkeit, mit der Möglichkeit, den Menschen Gutes zu tun, denen man so leicht Gutes tun kann und die so wenig daran gewöhnt sind; ferner Arbeit, eine Arbeit, von der man sich einen Nutzen verspricht; ferner Erholung, die Natur, Bücher, Musik, die Liebe zu einem geliebten Menschen, das ist mein Glück, das höchste, das ich mir denken kann. Und nun zu alldem noch eine Lebensgefährtin wie Sie und vielleicht eine Familie - das ist alles, was ein Mensch sich nur wünschen kann.
    Am 3. Juli warf er sich seinen Rucksack über und trat den zwanzig Meilen langen Marsch zum befestigten Teil des Stampede Trail an. Zwei Tage später erreichte er auf halbem Weg bei strömendem Regen die Biberteiche, die den Zugang zum Teklanika River versperrten. Im April, als sie noch zugefroren waren, hatten sie kein Hindernis dargestellt. Jetzt aber muß er mit Entsetzen registriert haben, daß die Teiche zu einem drei Hektar großen See angeschwollen waren. Um nicht durch das schlammige, brusttiefe Wasser waten zu müssen, erklomm er einen steil ansteigenden Hügel, umging die Teiche auf der

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