In die Wildnis
geherrscht, und die Eisschmelze hatte 1992 relativ früh eingesetzt. Dann war es jedoch wieder kälter geworden, daher war der Wasserstand des Teklanika noch recht niedrig, als McCandless ihn durchquerte - wahrscheinlich reichte er ihm kaum bis an die Schenkel. McCandless ahnte nicht, daß er damit seinen Rubikon überquerte. In zwei Monaten, wenn der Sommer einkehrte und die Gletscher und Schneefelder im Quellgebiet des Teklanika zu schmelzen begannen, würde sich die Wassermenge des Flusses verneun oder verzehnfachen und ihn in einen tiefen, reißenden Strom verwandeln, der mit dem sanften Bächlein, das McCandless so fröhlich durchwatet hatte, nichts mehr gemein hat.
Er war jedoch viel zu unerfahren, um sich dessen bewußt zu sein.
Aus seinem Tagebuch geht hervor, daß er am 29. April irgendwo durchs Eis brach, wahrscheinlich, als er hinter dem Westufer des Teklanika eine Reihe von Biberteichen überquerte. Doch nichts weist darauf hin, daß er sich dabei verletzte. Als ihn der Trail einen Tag später zu einem Hügelkamm hinaufführte, erhaschte er zum erstenmal einen Blick auf die mächtigen, blendend weißen Felsgruppen des Mount McKinley. Einen Tag später, am 1. Mai, stieß er auf den alten Bus am Sushana River. Er stand etwa zwanzig Meilen von der Stelle entfernt, an der Gallien ihn abgesetzt hatte. Der Bus war mit Pritschen und einem einfachen Holzofen ausgestattet. Es gab einen ganzen Vorrat an Streichhölzern, Insektenspray und anderen nützlichen Kleinigkeiten, die sich über die Jahre dort angesammelt hatten. »Magie Bus Day«, schrieb er in sein Tagebuch. Er beschloß, sich in dem alten Gefährt ein paar Tage lang auf die faule Haut zu legen und den bescheidenen Komfort zu genießen.
Er war überglücklich, dort zu sein. Auf eine verwitterte Sperrholzplatte, die von innen über ein kaputtes Fenster genagelt war, kritzelte McCandless seine schwärmerische Unabhängigkeitserklärung:
Zwei Jahre lang durchstreift er zu Fuß die Welt. Kein Telefon, keine liebgewonnenen Haustiere, keine Zigaretten. Freiheit total. Ein Extremreisender. Ein ästhetischer Wanderer der Welten, der nur die Straße sein Heim nennt, denn »The West is the Best.« Und nun, nach zwei Jahren der Wanderschaft, kommt das ultimative und größte Abenteuer. Es gilt, die letzte Schlacht zu schlagen, die zur zweiten Natur gewordene Falschheit auszumerzen und die spirituelle Wallfahrt siegreich zu beenden. Zehn Tage und Nächte auf Güterzügen und per Anhalter bringen ihn in den großen weißen Norden. Auf der Flucht vor dem Gift der Zivilisation durchschreitet er allein das Land, um sich in der Wildnis zu verlieren.
Alexander Supertramp,
Mai 1992
Die harte Realität sollte McCandless jedoch schon bald einholen und aus seiner Träumerei herausreißen. Es gelang ihm nicht, genügend Wild zu erlegen, und die täglichen Tagebucheinträge enthalten Kommentare wie »krank und schwach«, »eingeschneit«, und »Katastrophe«. Am 2. Mai bekam er einen Grizzly zu Gesicht, schoß aber nicht; am 4. Mai schoß er auf ein paar Enten, verfehlte sie aber; am 5. Mai schließlich erlegte und aß er ein Rebhuhn. Erst am 9. Mai erlegte er sein nächstes Wild, ein einziges, kleines Eichhörnchen. Da hatte er jedoch in seinem Tagebuch bereits den »4. Hungertag« notiert.
Doch schon kurze Zeit später sollte sich sein Schicksal zum Besseren wenden. Mitte Mai kreiste die Sonne bereits hoch am Himmel und ihre Strahlen überfluteten die Taiga. Wenn sie schließlich am westlichen Horizont verschwand, dann nur für knapp vier Stunden. Um Mitternacht war es stets noch hell genug zum Lesen. Außer an den nach Norden gewandten Hängen und in verborgenen Schluchten schmolz überall der Schnee. Das Tauwetter legte die Hagebutten und Preiselbeeren vom letzten Jahr frei. McCandless pflückte und aß sie in rauhen Mengen.
Auch als Jäger hatte er mehr Erfolg als zu Anfang und während der nächsten sechs Wochen stand bei ihm regelmäßig Eichhörnchen, Rebhuhn, Ente, Gans und Stachelschwein auf dem Speiseplan. Am 22. Mai löste sich an einem seiner Backenzähne eine Krone, aber er schien sich dadurch nicht weiter beirren zu lassen. Bereits am nächsten Tag kletterte er einen alleinstehenden, höckerförmigen Berg hinauf, der direkt nördlich vom Bus tausend Meter hochragt. Oben angekommen, blickte er auf die vereisten Felsschwünge der Alaska Range und unzählige Meilen von unbewohntem Land. Sein Tagebucheintrag für jenen Tag ist zwar von typischer
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