In die Wildnis
Dickicht der Vegetation verliert. Die Strecke ist im Grunde nicht allzu beschwerlich, und doch wirkt das fünf Meter hohe Erlengestrüpp, das einen von beiden Seiten bedrängt, düster, klaustrophobisch und bedrückend. In der stickigen Hitze tauchen immer wieder Moskitoschwärme auf. Alle paar Minuten wird ihr nervenzermürbendes Surren vom entfernten Donnern eines Gewitters übertönt. Am Horizont zieht eine mächtige, dunkle Wolkenfront über die Taiga herauf.
Struppiges Unterholz hinterläßt auf meinen Schienbeinen ein Gitterwerk blutiger Striemen. Mehrere Haufen Bärenkot und dann eine Reihe frischer Grizzlyspuren - jeder Tatzenabdruck eineinhalbmal so groß wie Schuhgröße 44 - machen mich nervös. Keiner von uns hat eine Waffe dabei. »Hey, Griz!« rufe ich ins Gebüsch, um eine Zufallsbegegnung auszuschließen. »Hey, Bär! Wir müssen hier nur kurz durch! Brauchst dich also nicht aufzuregen!«
Ich war in den letzten zwanzig Jahren ungefähr zwanzigmal in Alaska - mal zum Bergsteigen, mal um als Schreiner, Lachsfischer oder Journalist zu arbeiten, mal einfach so, um mich umzusehen. Im Laufe meiner vielen Reisen hierher habe ich eine Menge Zeit allein im Landesinnern verbracht und dies für gewöhnlich sehr genossen. Ehrlich gesagt hatte ich vor, allein zu dem Bus zu wandern, und war verstimmt, als mein Freund Roman sich selbst einlud und zwei andere gleich dazu. Jetzt bin ich jedoch sehr dankbar dafür, daß sie mich begleitet haben. Irgend etwas an dieser schaurigen, überwucherten Gegend ist zutiefst beunruhigend. Sie wirkt feindseliger, bösartiger als andere abgelegene, mir bekannte Landstriche Alaskas - die von Tundra bedeckten Hänge der Brooks Range, die Wolkenwälder des Alexanderarchipels und sogar die eisbedeckten, windgepeitschten Höhen des Denali - Massivs. Ich bin verdammt froh, daß ich nicht allein hier bin.
Es ist neun Uhr abends. Der Trail macht eine Biegung, und dort, am Rand einer kleinen Lichtung, steht der Bus. Rosafarbenes Berufkraut wuchert in den Radausbuchtungen bis zu den Achsen hoch. Der Bus steht zehn Meter vom Rand eines steilen Abhangs entfernt, neben einem Espenwäldchen auf einer kleinen Anhöhe, von wo aus es den Zusammenfluß des Sushana River mit einem kleineren Nebenfluß überblickt.
Der Platz ist hübsch und anheimelnd, voller Licht. Es ist leicht verständlich, warum McCandless beschloß, den Bus zu seinem Basislager zu machen.
Wir bleiben in einiger Entfernung vor dem Bus stehen und fixieren ihn eine Weile lang schweigend. Die Lackierung ist spröde und blättert ab. Mehrere Fenster fehlen. Der Boden um den Bus ist mit Hunderten von kleinen, dünnen Knochen und Tausenden von Stachelschweinstacheln übersät: die Überreste des Kleinwilds, das den größten Teil von McCandless' Ernährung ausmachte. Und am Rande dieses Knochenfriedhofs liegt ein ungleich größeres Skelett: das des Elchs, den er geschossen hatte und dessentwegen er sich solche Vorwürfe gemacht hatte.
Als ich Gordon Samel und Ken Thompson befragte, kurz nachdem sie McCandless' Leiche gefunden hatten, bestanden beide hartnäckig darauf, daß das große Skelett von einem Karibu stammt. Sie machten sich noch über die Ahnungslosigkeit des Jungen lustig, einen Elch mit einem Karibu verwechselt zu haben. »Durch die Wölfe waren die Knochen ein wenig verstreut«, hatte Thompson mir gesagt, »aber es war offensichtlich, daß das mal ein Karibu war. Der Junge hat einfach von Tuten und Blasen keine Ahnung gehabt.«
»Es war auf jeden Fall ein Karibu«, hatte Samel in spöttischem Ton hinzugefügt. »Als ich in der Zeitung gelesen hab, daß er einen Elch geschossen haben will, da hab ich gleich gedacht, daß der Junge nicht aus Alaska ist. Zwischen Elch und Karibu gibt es einen großen Unterschied. Einen Riesenunterschied. Da muß man schon ziemlich blöd sein, wenn man die nicht auseinanderhalten kann.«
Im Vertrauen darauf, daß Samel und Thompson - zwei erfahrene alaskanische Jäger, die zusammen schon eine Menge Elche und Karibus erlegt haben - sich schon nicht irren werden, berichtete ich in meinem Outside- Artikel ordnungsgemäß von McCandless' Irrtum. Damit bestätigte ich die Ansicht von zahllosen Lesern, daß McCandless für die Reise geradezu lachhaft schlecht vorbereitet gewesen sei, daß er in der Wildnis nichts zu suchen hatte, und schon gar nicht in den allein Könnern vorbehaltenen Wäldern der Last Frontier. McCandless starb nicht nur an seiner eigenen Dummheit, wie ein Alaska -
Weitere Kostenlose Bücher