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In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition)

In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition)

Titel: In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole C. Vosseler
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acht … acht … achtundfünfzig.« Wie ein Schluchzen lief es durch mich hindurch, als ich mich daran erinnerte.
    Ihr Mund blieb offen stehen. »Achtzehnhundertachtundfünfzig?«, wiederholte sie heiser.
    »Im November«, schoss es aus mir heraus, und unsicher setzte ich hinzu: »Glaube ich.«
    Ihre Augäpfel ruckten in den Höhlen hin und her; ich sah ihr an, wie sie nachrechnete. »Wow – dann bist du rund einhundertvierzig Jahre älter als ich!« Ihr Mund krümmte sich zu einem kecken Lächeln und in ihren Augen blinzelte es schelmisch auf. »Dann verbringe ich ja meine Zeit hier mit einem richtig alten, gesetzten Herrn. Merkt man dir gar nicht an.« Sie wurde wieder ernst. »Und wie alt warst du, als du … als du gestorben bist?«
    »Neunzehn?«, gab ich so unsicher von mir, dass es wie eine Frage klang. »Neunzehn … oder – oder zwanzig?«
    »Achtzehnhundertsiebenundsiebzig oder -achtundsiebzig«, hörte ich sie grüblerisch murmeln, dann hefteten sich ihre Augen auf mich. Die Erschütterung in ihrer Stimme verwirrte mich, weil Zeit schon lange keine Bedeutung mehr für mich besaß. Nur noch die Zeit mit ihr.
    »Mehr als einhundertdreißig Jahre …« Ihre Augen schimmerten auf, als würden Tränen darinstehen, und sacht fuhren ihre Finger über meine Wange. Ihre Brauen, ihr Mund waren in Bewegung und spiegelten wider, was in ihr vorging. Als versuchte sie nachzuempfinden, wie das für mich sein musste, und mehr als alles andere an ihr war es das, weswegen ich in diesem Moment endgültig mein Herz an sie verlor.

49
    Einhundertdreißig Jahre … Eine unvorstellbar lange Zeit.
    Mehr als einhundertdreißig Jahre lang war Nathaniel also schon dazu verdammt, zwischen der Welt der Lebenden und der der Toten festzusitzen, nach einem Leben, das nicht viel länger gedauert hatte als meines bis jetzt und gerade mal halb so lang wie das von Mam. So ungerecht kam es mir vor – und so unsagbar traurig. Etwas Schweres legte sich auf meine Brust und drohte sie zu zerquetschen; ich konnte nur noch stoßweise Atem holen.
    »Wie … wie bist du … gestorben?«, brachte ich flüsternd hervor, während ich unaufhörlich über seine Wange streichelte.
    »Ich weiß es nicht«, raunte er, und meine Haare flatterten unter seiner Hand, als er mir darüberstrich. »Es ist wie … wie wenn dicker Nebel über der Bay hängt. Du weißt, welche Straßen, welche Häuser sich darunter verbergen, ahnst ungefähr, wo du bist, aber du kannst einfach nichts mehr erkennen. Und so geht es mir mit der letzten Zeit, bevor … bevor …« Er verstummte.
    »Was ist das Letzte, woran du dich erinnerst?« Mitten in seiner Bewegung hielt er inne. Dann nahm er seine Hand weg und bog den Kopf zurück; sogar meinem Blick wich er aus. »Nathaniel?« Er vergrub die Finger in seinen Locken; in seinem Gesicht zuckte es, und mir wurde flau im Bauch, als ich sah, wie er mit sich rang. »Nathaniel?« Meine Stimme war kaum noch zu hören.
    »Ich …« Seine Schultern ruckten unruhig hin und her und in einer energischen, fast zornigen Bewegung wischte er über die Decke unter sich. »Da war ich mit einem Mädchen zusammen.« Trotzig klang er, beinahe störrisch.
    Ich blinzelte. »Und warum fällt es dir so schwer, mir das zu … Oh.« Meine Wangen wurden heiß. »Du meinst, ihr wart zusammen … im Bett?« Die letzten Worte hatte ich nur noch gehaucht; mein Gesicht fühlte sich an, als würde es grellrot leuchten. Und als Nathaniel mit abgewandtem Kopf nickte, traf es mich mitten ins Herz.
    Ich rollte mich auf den Rücken und starrte an die Rosenblüten und Ranken an der Decke der Eingangshalle. »Hast … hast du sie geliebt?« Meine Augen schlossen sich, und in mir verkrampfte sich alles, während ich auf seine Antwort wartete.
    »Nein.« Schuldbewusst klang er, und wie um sich zu verteidigen, setzte er hinzu: »Aber ich hab sie ganz gern gemocht.«
    Obwohl ich wusste, dass es völlig absurd war, wurde es mir eng in der Brust, weil Nathaniel vor weit über einhundert Jahren ein Mädchen auf eine Art in den Armen gehalten und geküsst hatte, wie er mich niemals in den Armen halten und küssen könnte, ein Mädchen, das schon längst nicht mehr lebte. Hastig rollte ich mich halb auf den Bauch, von ihm weg, ein Knie angezogen und mein glühendes Gesicht hinter den Unterarmen verborgen. Ich hatte nie eines der Mädchen sein wollen, die einen Jungen danach fragten, ob er sie mochte, aber ich musste es unbedingt wissen.
    »Magst du mich auch ganz gern?«,

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