In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition)
Türen von innen verriegelt. Selbst als der Chinese zu Boden ging, ließen Nathaniel und Jack nicht von ihm ab und traten mit ihren schweren Schuhen immer noch härter zu.
»Stopp!«, schrie ich. »Stopp! Aufhören! Aufhören! Bitte!«
Endlich legte sich der Sturm, der mich erfasst und umhergeschleudert hatte, und ich schlug die Hände vors Gesicht. Ich sah noch, wie der Chinese in einer Pfütze aus Blut lag, die Augen im zerschundenen, verschwollenen Gesicht starr zum Himmel gerichtet, hörte das Schrillen einer Trillerpfeife und wie sich schnelle, feste Laufschritte entfernten, dann brüllte Nathaniel neben mir auf. Ein kräftiger Windstoß fegte über mich hinweg und entfernte sich unter Brausen und Flüstern. Bis ich nur noch meinen eigenen keuchenden Atem hörte und mir der Pulsschlag in den Ohren dröhnte.
»Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Hallo, Sie! Sind Sie okay?«
Zitternd blinzelte ich zwischen meinen Fingern hervor. Vor mir standen ein bärtiger Mann und eine Frau mit windzerzaustem Pagenkopf, beide in den exakt gleichen Wanderjacken, Kameras um den Hals und Rucksäcke über der Schulter. Einige Schritte hinter ihnen stand ein Mädchen in einem rosafarbenen Anorak, etwas jünger als ich, das mich aus großen Augen anstarrte.
»Geht es Ihnen gut?«
Nathaniel war fort.
»Ja«, log ich. »Ja. Mir geht es gut.«
Ich schob mich von der Bank herunter und stellte mich unsicher auf die Füße. Ich machte ein paar wackelige, taumelnde Schritte, dann sackten mir die Beine weg; ich knallte auf die Knie und mir drehte es den Magen um. An der Betonmauer abgestützt, übergab ich mich so lange, bis ich nur noch Galle schmeckte.
»Ist das nicht furchtbar?«, hörte ich die Touristin hinter mir betroffen auf Deutsch sagen. »So ein junges Ding – und am helllichten Tag schon sturzbetrunken!«
»Tja«, erwiderte ihr Mann in belehrendem Tonfall. »Da siehst du’s: Das ist eben das andere Gesicht Amerikas.«
Nathaniel war fort. Aber als ich mir den Mund mit dem Handrücken abwischte und mühselig wieder auf die Beine kam, spürte ich, dass sich nichts geändert hatte.
Wie Wasser durch ein Sieb floss weiter die Kraft aus meinem Körper. Und damit die Zeit, die mir noch blieb.
78
Blind und taub stolperte ich durch die Straßen und Gebäude derStadt; ich merkte es kaum, wenn ein Auto oder ein Bus durch mich hindurchraste oder Menschen durch mich hindurchgingen. Immer wieder blieb ich stehen und schrie, schrie meinen Zorn heraus, den Hass auf mich selbst und die glühende Scham, die mich innerlich verbrannte.
Mehr noch, als selbst die Wahrheit über den Menschen zu kennen, der ich einmal gewesen war, schmerzte das Wissen, dass Amber mich so gesehen hatte. Amber. Mein Funny Girl.
Als es in meinen Gliedmaßen zu kribbeln und zu prickeln begann, als der Schmerz, dieser verhasste, feurige Schmerz, in mir aufflammte, wehrte ich mich nicht dagegen. Ich hatte es verdient. Aufstöhnend ließ ich mich zu Boden fallen und wälzte mich in diesem lodernden Brand, der in mir tobte, ohne mich zu verzehren. Ich hatte einen Menschen zu Tode geprügelt.
Wie hatte ich so etwas Entsetzliches tun können? Was um alles in der Welt hatte mich dazu getrieben?
Es tut mir leid. Es tut mir leid, was ich getan habe. Hörst du, Amber – es tut mir leid! Allmächtiger im Himmel, erbarm dich meiner und vergib mir meine Schuld. Ich bereue zutiefst. Ich bereue. Ich bereue …
Das Feuer ließ nach, erlosch nach und nach, und Erleichterung durchströmte mich. Ich spürte noch ein letztes Glühen, ein Echo des Schmerzes, und vorsichtig hob ich den Kopf. Menschen trampelten achtlos durch mich hindurch und mit einem gequälten Laut ließ ich den Kopf wieder sinken. Überwältigt von Verzweiflung weinte ich, ein trockenes, tränenloses Weinen.
Ich war noch immer ein Geist. Eine verlorene Seele ohne Aussicht auf Gnade.
Ohne Hoffnung auf Erlösung.
79
Die Füße in dicken Socken unter mich gezogen und in Mams Strickjacke eingemummelt, kauerte ich im Ledersessel; seit ein paar Tagen fror ich ununterbrochen, obwohl Ted mir zuliebe sogar die Heizung voll aufgedreht hatte. Auf meinen Knien lag ein Buch aufgeschlagen, von dem ich noch keine Zeile gelesen hatte, ich hatte sogar schon wieder den Titel und den Autor vergessen. Ich saß einfach nur da und beobachtete Ted, wie er im Schein der Aluminiumlampe an seinem Schreibtisch arbeitete.
Nicht zum ersten Mal in den letzten Tagen fragte ich mich, ob es für Mam ähnlich gewesen war, während der
Weitere Kostenlose Bücher