In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition)
einem Ort sein. The Barbary Coast. Das lasterhafte, sündige, gefährliche Viertel San Franciscos. Sin City. Das Las Vegas des neunzehnten Jahrhunderts. Bordelle und Glücksspiel in Hinterzimmern, Opiumhöhlen, Prügeleien und Messerstechereien, krumme Geschäfte, Diebstahl, Raub und Totschlag – das alles war hier an der Tagesordnung gewesen. Und hier hatte Nathaniel sich herumgetrieben.
Ich war dabei, als er in einen Zigarrenladen ging, wenig später mit triumphierendem Grinsen wieder herauskam und die Jungs in einer dunklen Ecke der Gasse abwechselnd an der geklauten Zigarre pafften. Und ich sah zu, wie Nathaniel im Halbdunkel einen Passanten anrempelte und mit seinen Freunden eine Querstraße weiter unten im Schein einer Gaslaterne die erbeutete Brieftasche plünderte. Konnte das wirklich derselbe Nathaniel sein, den ich so gut zu kennen glaubte?
»Aufhören«, raspelte ich mit rauer Kehle. »Ich will das nicht sehen. Aufhören.«
Verzweifelt versuchte ich, mich von Nathaniel loszumachen, aber mit der Macht eines Hurrikans hielt mich sein strömender Lufthauch fest und riss mich immer weiter hinab in den Strudel seiner Erinnerungen. Mitgefangen, mitgehangen, jagte es mir durch den Kopf, und ich schluchzte auf.
Ich musste weiter hinter Nathaniel und seinen Kumpels hinterhertaumeln, die betrunken und grölend durch Gassen zogen und mit anderen Jungs Streit anfingen, dann eine Schlägerei. Eine Faust kam auf mich zugeschossen, und ich duckte mich, taumelte dann erschrocken zurück, während Nathaniel mit einem wesentlich größeren und stärkeren Typen rang, so wie auch Jack und die anderen schnaufend und fluchend Faustschläge und Tritte austeilten. Urplötzlich zerstreute sich das Knäuel aus sich prügelnden Jungs; Nathaniel rappelte sich auf und wischte sich lachend mit dem Handrücken Blut aus dem Mundwinkel.
Verpiss dich, du dreckiger Chink! Nathaniel schubste einen etwa gleichaltrigen Chinesen an einer Hausecke beiseite, bevor er mit Jack und den anderen hocherhobenen Kopfes weitermarschierte, lässig und sehr, sehr selbstsicher. Ich blinzelte und sah mich um. Chinatown, das musste Chinatown sein. Ein sehr viel fremdländischeres und schöneres Chinatown als das, das ich kannte. Mit luftigen Balustraden an den großen Häusern, kunstvoll geschnitzten Balkonen voller bunt blühender Topfpflanzen und prächtigen scharlachroten und goldenen Bemalungen. Überall hingen kostbare Lampions, und was ich durch die Schaufensterscheiben von den Läden sah, wirkte teuer und edel und war verschwenderisch dekoriert. Aber es gab auch die kleinen, engen Gassen mit den zur Straße hin offenen winzigen Garküchen, den Lädchen, die frischen Fisch anboten, Obst und Gemüse und fachmännisch zerlegtes Schlachtvieh, dessen Teile an Haken neben Knoblauchzöpfen von der Decke baumelten. Fremde Gewürze konnte ich erschnuppern, scharf und von einer ungewohnten Süße und manchmal beißend, und der Geruch von Holz und von Tieren drang in meine Nase. Lebende Hühner wurden in Flechtkörben an einer Bambusstange über die Straße transportiert, und an einer Ecke saß ein verhutzelter alter Schuhmacher mit seiner Werkzeugkiste, der gerade ein Paar Schnürschuhe flickte. Zu spät sah ich den Chinesen in blauer Jacke und Hose, der einen Korb voller Shrimps vor sich herschleppte, und konnte ihm nicht mehr ausweichen. Ich erschauerte, als er einfach durch mich hindurchmarschierte; ein Luftzug durchwirbelte mich, der nach Schweiß roch, nach Bratenfett, nach Tang und Salz und Fisch, und ich keuchte auf.
Hinter mir klirrte es und ich fuhr herum. Jack riss jubelnd vor der zertrümmerte Schaufensterscheibe den Arm hoch, deren Scherben auf den ausgestellten Vasen und Statuen glitzerten, und Nathaniel warf einen Pflasterstein in die zweite Scheibe des Ladens, die unter schrillem Scheppern zersplitterte. Wutentbrannt lief der noch junge Ladeninhaber auf die Straße und beschimpfte Nathaniel und Jack, die ihn packten und sofort auf ihn eindroschen, angefeuert von einer ganzen Schar anderer Jungs. Weiter so! Gebt’s ihm! Zeigt’s dem dreckigen Chink! Mädchenhändler! Zuhälter! Opiumschmuggler! Macht das Schwein fertig! Als aus dem Nachbarladen ein Mann zu Hilfe kommen wollte, verpasste ihm Jack mit einem gezielten Fauststoß eine blutige Nase. Der Chinese brüllte und weinte und bettelte unter den geschockten und ängstlichen Blicken der Menschen auf der Straße; in zwei oder drei Läden wurden hastig die Fensterläden zugeklappt und die
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