In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition)
abfallenden Augen etwas Melancholisches hatten. Das einzig Weiche in diesem harten Gesicht war sein großer Mund mit der schwungvoll gezeichneten Oberlippe.
Er gehörte eher zu diesen Typen, die man mit einem atemlos gezischten heissss! etikettierte. Nur von Weitem, weil man genau wusste, dass solche Typen nichts für einen übrig hatten. Und wenn doch, würde es so einem sicher nicht reichen, ganze Nachmittage lang nur zu knutschen.
Sämtliche Alarmglocken schrillten in meinem Kopf, aber gleichzeitig war es, als würde ich aus der Ferne das Echo einer Melodie hören, die ich zwar kannte, deren Titel mir aber nicht einfiel.
»Was machst du hier?« Ich klang nicht annähernd so feindselig, wie ich es hätte sollen.
Einer seiner Mundwinkel hob sich. »Was machst du hier?«
Blödes Spiel, eine Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten. Aber was er konnte, konnte ich auch. »Geht dich das was an?«
Der andere Mundwinkel zog mit dem ersten gleich. »Allerdings.«
Ich blinzelte verwirrt, während ich versuchte, mir einen Reim darauf zu machen, aber alle Möglichkeiten, die mir durch den Kopf gingen, ergaben keinen Sinn. Bis ich kapierte, dass er wohl ein Obdachloser sein musste, der ab und zu hier hauste. Klar, das passte, hier gab es so viele davon, vor allem rings um den Union Square. Das erklärte auch seine komischen Klamotten, die er sicher aus der Altkleidersammlung hatte. Ich spürte so etwas wie Mitgefühl, dass ein noch so junger Kerl auf der Straße lebte und sich zum Pennen in ein leer stehendes Haus flüchtete. Aber mir war auch unbehaglich zumute, weil ich mich fragte, wie er so weit abrutschen konnte. Alkohol oder andere Drogen? Tatsächlich ein Psycho? Verkorkste Kindheit? Im Gefängnis gewesen und nicht wieder auf die Füße gekommen? Unwillkürlich machte ich noch einen Schritt rückwärts.
Am meisten jedoch beschäftigte mich der Gedanke, dass die Freude, die ich an diesem verlassenen Haus gehabt hatte, verdorben war; nie wieder würde ich mich hier wohlfühlen, nie wieder sicher, allein und unbeobachtet. Und ich schämte mich dafür, weil dieses Problem winzig war im Vergleich zu dem, womit er sich vermutlich herumschlagen musste.
»Wie heißt du?«, fragte er mich in meine Gedanken hinein.
»Amber«, antwortete ich verwundert und wie im Reflex; erst im nächsten Moment ging mir auf, dass das womöglich extrem blöd von mir gewesen war, und ich trat einen weiteren Schritt zurück.
»Amber«, wiederholte er langsam, und mit seinem stark rollenden R klang es wie das Schnurren eines großen Katers. Am-berrrrr … Der Nachhall seiner Stimme hing noch einige Augenblicke im Raum und seine grünen Augen leuchteten auf. Mir lief es erst kalt den Rücken hinunter. Dann heiß. Sehr heiß.
»Und du?«, flüsterte ich.
Sein Mund verbreiterte sich. »Nathaniel.«
Nathaniel. Das Echo der fernen Melodie, die ich mehr spürte als hörte, hatte etwas Verlockendes, und wieder glitt ein sehnsüchtiges Ziehen durch mich hindurch. Nathaniel.
»Ich muss jetzt … jetzt wirklich los«, gab ich wackelig von mir und machte einen halbherzigen Schritt in den Raum hinein.
»Willst du die nicht erst zubinden?« Meine Augen folgten seinem Zeigefinger zu meinen Sneakers, um die sich die losen Schnürsenkel schlängelten. Die perfekte Stolperfalle.
Mir schoss das Blut ins Gesicht; hastig setzte ich meinen Rucksack ab und ging in die Knie. Mit unsicheren Fingern nestelte ich an den Schnürsenkeln herum und warf immer wieder rasche Blicke in seine Richtung, um ihn im Auge zu behalten. Während ich mich damit abmühte, meine Schuhe zuzubinden, ließ Nathaniel, den Kopf an die Wand gelehnt, mich wiederum nicht aus den leuchtenden Augen. Uah. Freaky.
Als ich es endlich geschafft hatte, die zweite Schleife zuzuziehen, schnappte ich mir meinen Rucksack, schnellte hoch und keuchte erschrocken auf. Ohne dass ich es bemerkt hatte, war Nathaniel aufgestanden und lehnte jetzt mit einer Schulter an der Wand. Seine Art, sich flink und geräuschlos zu bewegen, war wirklich unheimlich.
»Sehen wir uns morgen?«, kam es leise von ihm, die Hände in den Hosentaschen. Verdammt lässig sah er dabei aus.
»Ähmm … ich fürchte, ich … ich glaube, ich muss morgen, äh …«, stotterte ich herum. Seine Kiefermuskeln spannten sich an. Das Leuchten in seinen Augen verlosch und sein Blick wanderte zu Boden. Mein Magen wand sich wie ein Wurm. Ich verstand selbst nicht, weshalb ich mich mit einem Mal so schlecht fühlte. »Also, vielleicht,
Weitere Kostenlose Bücher