In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition)
wiederum über was anderes zu reden.
»Wann hast du es erfahren – dass sie sterben wird?«
In meinem Gesicht zitterte es; ich senkte den Kopf und zupfte an der Zehennaht meiner Socke herum. »Gleich ziemlich am Anfang.«
Natürlich hatte ich es komisch gefunden, dass Gabi mich an jenem Nachmittag von der Schule abholte, um mit mir Eis essen und danach noch ins Kino zu gehen. Aber in der letzten Zeit war manches bei uns komisch gewesen. Mam hatte sich nicht gut gefühlt und auch nicht gut ausgesehen, und oft musste ich ihr alles zwei- oder dreimal erzählen, weil sie mit den Gedanken ganz woanders gewesen war. Genau wie Gabi an diesem Nachmittag, und im Kino hatte sie bei jeder nur ein klein wenig rührseligen Szene losgeheult und ein Tempotaschentuch nach dem anderen vollgeschnieft.
Danach waren wir noch bei McDo gewesen, und als Gabi mich nach Hause brachte, war es schon fast Schlafenszeit gewesen. Aber obwohl sie und Mam hinter der geschlossenen Glastür zum Wohnzimmer nur flüsterten, konnte ich nicht einschlafen. Kurz nachdem Gabi gegangen war, hatte das Telefon geklingelt. So spät rief bei uns nur einer an: Ted. Ich war schnell aus dem Bett geschlüpft und über den Flur geschlichen und hatte die Ohren gespitzt. … kein Problem, ich war eh noch wach. Danke, dass du so schnell zurückgerufen hast. – Nein, nicht gut. Genau wie befürchtet. Dann hatte Mam ein paarmal schwer durchgeatmet. Unser Mädchen wird dich bald brauchen, Ted. Ich weiß noch gar nicht, wie ich’s ihr sagen soll …
Ich hatte es nicht mehr ausgehalten und die Tür aufgerissen. Was sagen, Mam? In meinem Kopf purzelten alle möglichen Gedanken durcheinander; einige Augenblicke lang hoffte ich mit einem Hüpfen im Bauch sogar, Mam und Ted würden wieder zusammenkommen. Aber die Art, wie Mam mich vom Sofa aus ansah, als würde sie sich nur mühsam zusammenhalten und könnte jeden Augenblick in Stücke gehen, ließ mir übel werden vor Angst. Mam! Was sagen? Heiser hatte sie in den Hörer geflüstert, dass sie später zurückrufen würde, und aufgelegt. Ich hatte mich in ihre ausgebreiteten Arme geschmissen, und während sie mich festhielt und mir über die Haare strich, hatte sie mir von dem Tumor in ihrem Kopf erzählt, von CT s und MRT s, von der bevorstehenden OP , von Bestrahlungen und Chemos und dass wir nur noch maximal ein halbes Jahr zusammen haben würden. Und die ganze Zeit, während ich versuchte, irgendwie zu begreifen, was sie mir da erzählte, brannten Tränen hinter meinen Augen.
Von denen keine einzige je hervorkam. Nie. Als wären sie dort eingefroren, irgendwo hinter meiner Stirn.
»Erzähl mir von ihr.«
In meinem Gesicht gab etwas nach, und ich spürte, wie sich ein Lächeln darauf ausbreitete. »Mam … Mam war einfach klasse. Ich konnte über alles mit ihr reden, sie fand nie etwas albern oder seltsam oder dumm, was mich beschäftigte. Es war nicht so, dass ich automatisch alles bei ihr durfte, aber wenn sie mir was verboten hat, hat sie mir den Grund erklärt, damit ich auch verstand, warum das nicht ging. Sie war klug und witzig und eigentlich immer gut gelaunt.« Das Lächeln auf meinem Gesicht dehnte sich weiter aus, und mir kitzelte es irgendwo hinter dem Brustbein, als ich Mam vor mir sah, in den ramponierten Jeans und den mit Logos oder witzigen Slogans bedruckten Longsleeves, die sie zu Hause trug, die langen Haare zum Pferdeschwanz hochgebunden oder mit einer großen Klammer hochgewurschtelt, ungeschminkt und meistens barfuß. »Mit ihr zusammen hat alles Spaß gemacht, sogar so simple Dinge wie im Supermarkt einkaufen zu gehen. Sie fand immer etwas, wozu sie eine lustige Bemerkung machen konnte, über die wir uns dann kaputtlachten. Und beim Putzen hat sie immer die Musik voll aufgedreht und laut mitgesungen.« Das Kinn vorgeschoben, nickte ich vor mich hin. »Sie war echt eine tolle Mam.«
»Klingt nach jemandem, den ich gerne kennengelernt hätte.«
Ich wandte den Kopf. Einen scheuen, fast schon weichen Zug um den Mund, sah Nathaniel mich an, den Ellenbogen auf dem Bein aufgestützt und die Finger in seinen Haaren vergraben. Ich fragte mich, wie sich diese dicken Kringel und Wellen wohl unter meinen Händen anfühlten, und hastig richtete ich den Blick wieder auf meine Socke, die ich mir inzwischen halb vom Fuß gezerrt hatte.
»Ich glaube, jeder mochte sie«, sagte ich leise und drehte den Sockenzipfel um den Zeigefinger. »Wenn sie freitags oder samstags mit ihrer Ausrüstung losgezogen ist, um
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