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In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition)

In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition)

Titel: In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole C. Vosseler
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sondern durch eine Schlucht aus Backsteinbauten und Hochhäusern hindurch bis auf die Bucht und einen Pfeiler der Bay Bridge gucken konnte. Für ihn war es okay gewesen, dass ich nicht mehr an den Fisherman’s Wharf mochte und überhaupt die restliche Ferienwoche nur auf dem Sofa liegen wollte, und zu den ersten beiden Terminen bei Dr. Katz hatte Ted mich sogar begleitet und wieder abgeholt – wie konnte ich da wütend auf ihn sein?
    »Bist du wütend auf deine Mutter, Amber?«, setzte Dr. Katz leise hinzu, und ich starrte sie verblüfft an. »Weil sie dich verlassen hat und weil sie wollte, dass du zu deinem Vater kommst?«
    Unter verkniffenen Brauen rutschte mein Blick abwärts, auf die knallroten Pumps mit Stilettoabsatz von Dr. Katz hinunter. »Was ist das denn für eine Scheißfrage?!« Ich brüllte es fast heraus.
    »Sag du es mir. Warum hältst du das für eine Scheißfrage?«
    Weil sie die beste Mam der Welt gewesen war. Und weil ich sie schrecklich vermisste. Genau wie ich Nathaniel vermisste. Ein eisiger Schauder rann mir den Rücken herunter; ich schob die Hände unter meine Oberschenkel und umklammerte sie fest, bevor ich mit den Augen am Sekundenzeiger der Uhr Halt suchte.
    Tick. Tick. Tick. Tick. Tick.
    Noch dreizehn Minuten.
    »Wovor hast du solche Angst, Amber?«
    Meine Lider klappten in schneller Folge auf und zu und das Zifferblatt verschwamm vor meinen Augen.
    Ich hatte Angst vor dem, was in meinem Kopf vor sich ging. Dass darin irgendwelche Sicherungen durchgebrannt waren und ich deshalb über Wochen hinweg jeden Nachmittag Zeit mit einem Jungen verbracht hatte, den ich so sehr mochte, der aber gar nicht wirklich existierte. Weil ich mir plötzlich einbildete, ich könnte Geister sehen. Wo doch jeder wusste, dass es keine Geister gab. Zumindest jeder, der einigermaßen normal tickte. Ich hatte Angst vor dem Einschlafen, weil ich in meinen Träumen immer in das Haus in der Franklin Street zurückkehrte, in dem Nathaniel auf mich wartete. Und jedes Mal wurde er wieder zu dieser transparenten Erscheinung, in der sich meine Finger bewegten; jedes Mal spürte ich wieder diese zähe Kühle auf meiner Haut wie heute vor einer Woche, als ich mit den Fäusten auf ihn losgegangen war, aber ins Leere geschlagen hatte. Und auch jetzt, während ich daran dachte, hatte ich dieses Gefühl auf den Fingerspitzen, spürte ich diesen Lufthauch auf meiner Wange, wo er mich berührt hatte, wie ein Windstoß, der bereits eine Ahnung von Regen in sich trug, und meine Knie begannen zu zittern.
    Wenn ich nicht von Nathaniel träumte, waren es Flutwellen und Meeresstrudel, die mich in die Tiefe rissen und Wasser in meine Lungen pressten, sodass ich keine Luft mehr bekam und nach Mam schrie. Bis Ted mich aufweckte, mir einen Tee machte und auf meiner Bettkante sitzen blieb, während ich die Tasse Schluck um Schluck leerte. Mittlerweile hatte er genauso dunkle Ringe unter den Augen wie ich und trank noch mehr Kaffee als früher, und ich spulte meine Schultage wie ein Zombie ab. Und von Mam träumte ich manchmal, aber ich war mir sicher, wenn ich davon hier anfing, würde ich innerhalb der nächsten Sekunden in tausend winzige Splitter zerbersten.
    So sehr ich mich an den Gedanken geklammert hatte, Dr. Katz könnte mir helfen, so groß war jetzt meine Angst, sie würde mich umgehend in die Klapse stecken, wo ich den Rest meines Lebens mit Medikamenten vollgepumpt als vorzeitig verwelktes Gemüse verbringen konnte, wenn ich ihr auch nur einen Bruchteil von all dem erzählte.
    Ich zog schnell die Hände unter meinen Schenkeln hervor und presste sie auf meine Knie, um sie zum Stillhalten zu zwingen, und mit zusammengebissenen Zähnen verfolgte ich weiter den Sekundenzeiger.
    Tick. Tick. Tick. Tick. Tick.
    Die ganzen übrig gebliebenen sieben Minuten lang.
    Bis es zehn vor sechs war und ich gehen konnte.

32
    Sie nicht mehr zu sehen, war wie ein Loch, das in meiner Brust aufgerissen war, ungefähr dort, wo früher einmal mein Herz geschlagen hatte. Eine pochende Öffnung, die sich zusammenzog und wieder ausdehnte. Wie eine Pumpe unter Dampf, die etwas anzusaugen versucht, aber nichts zu fassen bekommt und irgendwann heiß läuft.
    Rastlos wanderte ich durch das Haus, das mir jetzt viel zu groß und gleichzeitig viel zu eng vorkam. Ihre Sachen, die ich mit meinem Zorn durch die Gegend geschleudert hatte, hatte ich wieder eingesammelt und ordentlich hingelegt. Als ob ich Narr wahrhaftig daran glaubte, sie würde je zurückkommen,

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