In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition)
um sie abzuholen. Manchmal presste ich ihre Decke an mich, drückte mein Gesicht hinein und stellte mir vor, es wäre sie selbst. Ihre Haut, ihr Haar, ihr Körper, der so voller Leben steckte, der atmete und in dem ein Herz schlug.
In diesen Momenten war es, dass ich ab und zu etwas von ihr wahrnahm. Nicht immer und nur schwach, wie ein gespannter Draht tief in mir, der angetippt wurde und dann zart vibrierte. Mal langsamer, meistens jedoch schnell und zitternd. Als wäre sie in diesem Moment nicht allzu weit von mir entfernt und ich könnte das Echo ihres Seins spüren.
Wie es ihr wohl ging? Was machte sie gerade? Dachte sie noch an mich?
Oft stand ich dann auf und legte die Stirn gegen die Wand. Es wäre so einfach, nicht beschwerlicher als ein Einatmen früher, und ich würde durch Holz und Stein gleiten. Hinaus ins Freie, wo ich wie ein Tier ihre Witterung aufnehmen und mich ihr nähern könnte. Mehr von ihr spüren, sie vielleicht sehen könnte. Doch jedes Mal verließ mich gleich wieder der Mut. Weil ich mich an eine Zeit erinnerte, in der ich so voller Zorn gewesen war, dass ich brüllend draußen herumwirbelte, um mich schlug und Dinge herumschleuderte und dann lauthals über die Angst der anderen lachte. Denn warum sollten sie Frieden haben, wenn ich keinen finden konnte?
Es war gut gewesen, dass der Zorn irgendwann nachließ und einer Taubheit Platz machte. Mit einer grauen Mehligkeit von Zeit, in der Hell und Dunkel, Tag und Nacht nicht mehr waren als ein Wimpernschlag. Sie hatte das geändert und meine Tage zerschnitten in die kurzen, lichten und leichten Spannen mit ihr und die langen, dunklen, schweren ohne sie. Und nun war alles wie vorher, ein zäher, finsterer Brei.
Ich wünschte, ich könnte mich daran erinnern, was ich verbrochen hatte, als ich noch am Leben war. Dann könnte ich bereuen und Buße tun und endlich hinübergehen auf die andere Seite. Was immer mich dort erwarten mochte, konnte nicht schlimmer sein als das jetzt hier. Ohne sie.
Ich vermisste sie unendlich. Amber. Mein Funny Girl.
33
Dr. Katz schlug das rechte Bein über das linke, stützte den Ellenbogen auf die Sessellehne und sah mich aufmerksam an, zwei Finger an ihre Wange gelegt. »Warum denkst du, ich würde dich in die Klapse , wie du es nennst, stecken?«
Meine Augen klebten an der Schulter ihrer Seidenbluse fest, auf der sich psychedelische Wirbel in Lila, Orange und Rot umeinanderwanden. Sieben Sitzungen hatte ich bisher mit ihr verbracht und jedes Mal hatte sie eine andere solche bunt bis schrill gemusterte Bluse zu Jeans und mörderischen High Heels angehabt. Jede Woche kam ich zweimal direkt nach der Schule hierher, montags um fünf und donnerstags um vier, und blätterte mich im Vorraum durch die Ausgaben von Vogue und InStyle, bis sie die Tür zu ihrem Zimmer öffnete und mich hereinbat. Für fünfzig Minuten auf ihrem blauen Sessel, in denen ich sehr viel schwieg und unter dem Ticken der goldenen Uhr auf das Bücherregal starrte. Erst seit letzter Woche hatte ich angefangen, ein paar vage Andeutungen zu machen. Vielleicht weil sie mich nie ausfragte, sondern fast unbeweglich und ohne Mimik in ihrem Sessel saß wie eine Sphinx. Manchmal vergaß ich sogar, dass sie da war, bis mich das Übereinanderschlagen ihrer Beine und das Kritzeln ihres Kulis auf dem Papier des Klemmbretts daran erinnerte.
»Weil ich«, flüsterte ich jetzt heiser und tippte mir an die Schläfe, »nicht ganz dicht bin.«
»Wie kommst du darauf, dass du nicht ganz dicht sein könntest?«
Ich verdrehte die Augen; es ging mir tierisch auf die Nerven, dass sie immer meine eigenen Worte wiederholte, wenn sie eine Frage an mich richtete. »Weil es eben so ist.« Ich senkte den Kopf und drehte den Saum meiner Bluse zwischen den Fingern. »Nicht normal«, setzte ich so leise hinzu, dass ich meine Stimme selbst kaum mehr hörte.
Dr. Katz schwieg einige Augenblicke, bevor sie sanft sagte: »Es ist auch nicht normal, in deinem Alter mitzuerleben, wie die Mutter an einem Hirntumor stirbt.«
Meine Lider flatterten und meine Finger verkrampften sich um den Stoff meiner Bluse. »Ich bilde mir Dinge ein«, rutschte es mir einfach so heraus.
»Was für Dinge bildest du dir denn ein?«
Ich schluckte. Als ich gestern nach dem Unterricht meine Sachen aus dem Schließfach geholt und mich umgedreht hatte, war neben der Toilette wieder dieser Junge mit den stoppelkurzen Haaren und den veilchenblauen Augen gestanden. Ich hatte ihn angestarrt, und er hatte
Weitere Kostenlose Bücher