Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition)

In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition)

Titel: In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole C. Vosseler
Vom Netzwerk:
schwang noch immer die Berührung ihrer Hände nach, so warm, so lebendig.
    Ich wusste nicht, warum ich nicht schnell genug gewesen war, wo doch Zeit, Raum und Materie mir kaum Grenzen setzten. Wie durch einen Zauber gebannt war ich gewesen. Vielleicht weil ich es mir so heftig ersehnt hatte, sie einmal zu spüren, sie einmal anzufassen, nur ein einziges Mal. Genauso wenig wusste ich, wie das alles möglich war. Warum sie mich sehen und meine Stimme hören konnte. Warum sie all die Zeit nicht gemerkt hatte, dass sie einen Geist vor sich hatte.
    Ein solches Geschenk war es anfangs gewesen und sie das Beste, was mir je widerfahren war. Und jetzt war daraus der schlimmste Fluch geworden.
    Denn jetzt würde ich sie vermissen bis in alle Ewigkeit. Solange ich ein Geist blieb. Oder bis ich sie vielleicht durch eine unerwartete Gnade vergaß.
    So wie alles andere.

30
    Ich jagte über den Rasen, rutschte aus und schlug der Länge nach hin. Benommen blieb ich liegen, bis ich aus dem Haus hinter mir Scharren und Rumpeln hörte. Ich gab einen erstickten Laut von mir, dann rappelte ich mich keuchend auf, setzte über die Begrenzungsmauer hinweg, die Stufen hinunter und riss das Tor im Eisenzaun auf.
    Dann rannte ich nur noch, rannte um mein Leben. So kam es mir vor.
    Ich nahm mir nicht die Zeit, auf den Aufzug zu warten; immer zwei Stufen auf einmal hechtete ich die Treppen hinauf. Hinter mir hörte ich Mrs Hansons empörten Ruf »Amber! Hallo! So geht das aber nicht!« und das panische Fauchen ihrer Katze.
    Schweißgebadet und schnaufend kam ich im dritten Stockwerk an und fummelte mit zitternden Händen die Wohnungstür auf, knipste sofort das Licht im Flur an und schlug dann erst die Tür hinter mir zu. Obwohl es heller Tag war, flitzte ich durch alle Räume und schaltete jede Lampe ein, die ich finden konnte, bevor ich in meinem Zimmer die Zudecke vom Bett schnappte und mich damit im Wohnzimmer auf das Sofa warf. Ich zog mir nicht einmal die Sneakers aus.
    Die Decke bis zum Hals hinaufgezerrt, drückte ich mich schlotternd in die Polster. Ein Schauder nach dem anderen jagte durch mich hindurch; meine Zähne schlugen aufeinander und mir war übel vor Angst.
    Vor mir selbst hatte ich Angst. Davor, dass offensichtlich irgendwann in der letzten Zeit etwas in meinem Kopf kaputtgegangen war. Ich war verrückt. Gaga. Völlig durchgeknallt.
    Als ein Schlüssel in der Wohnungstür klackte, schreckte ich hoch und schrie auf.
    »Amber?«
    »H-hier!«, quiekte ich. »W-woh-zi-zi …« Meine Stimme gehorchte mir genausowenig wie mein Körper.
    Mit besorgter Miene tauchte Ted in der Tür auf, ließ den Schlüsselbund fallen und setzte sich sofort zu mir aufs Sofa.
    »Heyhey, was ist los? Bist du krank?« Ich war so verstört, dass ich es sogar zuließ, wie er mir die Hand erst auf die Stirn, dann auf die Wange legte. »Du glühst, hast du Fieber? Was ist denn mit dir, hm?« Er strich mir über die Haare.
    Plötzlich musste ich an die alte Frau auf dem Friedhof denken. Und an den seltsamen Jungen mit den veilchenblauen Augen in der Schule. Dieser Blick. Es war dieser Blick, mit dem sie mich angesehen hatten. Genauso hatte mich Nathaniel angeschaut, als wir uns zum ersten Mal begegnet waren, und ich zitterte noch heftiger.
    Ich sehe tote Menschen.
    Aber ich war nicht Cole aus The Sixth Sense . Ich war Amber, Amber Seemann. Und das hier war kein Film. Das war alles real. Einen gewaltigen Sprung in der Schüssel inklusive. Mit dem ich mir einbildete, Gestalten zu sehen, die es gar nicht wirklich gab. Geister.
    Ich verkroch mich noch tiefer unter der Decke. Ein paarmal musste ich hart schlucken, bis ich schließlich wenigstens ein tonloses Flüstern hinbekam.
    »Gilt das Angebot mit der Psycho-Tante noch?«

TEIL ZWEI
    Zwischen zwei Welten
    Millionen Geistwesen wandeln über die Erde ungeseh’n,
    ob wir wachen oder wenn wir ruh’n.
    JOHN MILTON

31
    Tick. Tick. Tick. Tick. Tick.
    Konzentriert verfolgte ich den Sekundenzeiger der kleinen goldenen Uhr unter ihrer Glasglocke. Mir kam es vor, als hätte sich der kleine Zeiger schon länger nicht mehr bewegt, und verstohlen schielte ich auf meine Armbanduhr. Doch auch die zeigte achtundzwanzig Minuten nach fünf. Immer noch zweiundzwanzig Minuten, und ich unterdrückte ein Seufzen. Von draußen hörte ich gedämpft das Brausen der Autos, die auf der California Street auf und ab rasten, das Rattern der Stahlseile der beiden Cable-Car-Linien, die sich eine Querstraße weiter oben kreuzten,

Weitere Kostenlose Bücher