In dunkler Tiefe sollst du ruhn: Mitchell & Markbys zwölfter Fall
talseitige Gleis zu erheben und dahinter auf den talseitigen Pfeiler zu senken, der halb in der Böschung stand. Im Gewirr des Gestrüpps und Unterholzes zu beiden Seiten waren weitere, von Efeu überwucherte Mauerwerke zu erkennen. Was für eine Arbeit muss das gewesen sein, dachte Markby. Die Streckenarbeiter, die mit Schaufel und Hacke das Erdreich bewegt und die Böschung erschaffen hatten. Die Ingenieure, die das Verlegen der Schienen beaufsichtigt hatten, und die Bauarbeiter, die zuerst das Holzgerüst für das Viadukt und anschließend das Viadukt selbst errichtet hatten. Die Luft erfüllt von fremden Dialekten der Arbeiter aus nah und fern, die an diesem Projekt beteiligt gewesen waren. Die Frauen, die plappernd und kreischend an den riesigen Kesseln gestanden und Essen für alle gekocht hatten. Die Unfälle, die sich zweifelsohne ereignet hatten, Männer, die unter herabfallenden Baumstämmen oder Steinen begraben oder von Gerüsten gestürzt waren. Die stinkenden Zelte mit den Kranken, Opfern der Cholera, die unter den Streckenarbeitern grassierte. Heute war das Viadukt ein vergessenes Monument aus der Vergangenheit. Seit jenen längst vergangenen Zeiten waren neue Straßen gebaut worden, und die alte Landstraße wurde nicht mehr benutzt. Sie war verfallen und nach und nach vom Unterholz überwuchert worden. Dennoch arbeiteten noch immer Menschen hier, an den Schienen, wie sie es seit hundertfünfzig Jahren getan hatten. Markby hörte Stimmen, die von weiter unten herangeweht wurden, und das Geräusch eines Generators. Die Wartungsarbeiten an den Gleisanlagen, die Merediths Zug aufgehalten hatten. Markby runzelte die Stirn, dann sah er einmal mehr hinauf zur Wölbung des Viadukts. Irgendwann einmal war es mit Eisennieten und Maschendraht verstärkt worden.
»Sieht trotzdem nicht allzu sicher aus, wenn du mich fragst«, sagte er und deutete auf die Reparaturstellen.
»Man sollte es dem Verantwortlichen melden, schätze ich. Stell dir nur vor, was geschieht, wenn einer von diesen Blocks auf die Schienen fällt. Man sollte dieses Ding ganz abreißen.«
»Jede Wette, dass die viktorianische Gesellschaft etwas dagegen hat«, sagte Meredith und spähte ebenfalls nach oben.
»Ich denke, es ist möglich, nach oben zu gelangen«, sagte sie.
»Ja, das glaube ich auch. Man muss den Hügel hinaufklettern und einen Weg durch das Gestrüpp suchen.«
»Es erinnert mich an das Schloss von Dornröschen«, sagte Meredith.
»Es wurde vollkommen überwuchert, bis niemand mehr wusste, wo im Wald es stand.«
»Das ist eine sehr romantische Vorstellung«, erwiderte Markby überrascht.
»Ich hatte gerade einen Gedanken, der alles andere als romantisch ist. Grauenhaft wäre schon eher passend. Möchtest du ihn hören?« Sie sah ihn unter erhobenen Augenbrauen hervor an.
»Schieß los. Grauenhaft ist mehr mein Metier als romantisch.« Er hatte es eigentlich nur als Scherz gemeint, doch Meredith fasste seine Worte ganz anders auf.
»Tut mir Leid«, sagte sie steif.
»Ich wollte nicht … hör mal, erzähl mir doch einfach, was dir in den Sinn gekommen ist.«
»Warum hat er die Leiche nicht auf die Schienen gelegt? Ich nehme an, er hat sie im Dunkeln hierher geschleppt. Ein Spätzug, der durch die Dunkelheit rast, hätte sie erwischt, und dann hätte es ausgesehen wie Selbstmord.«
»Er war sich dessen nicht sicher. Oder er hat in seiner Panik nicht daran gedacht. Vielleicht hat er sich wegen der Männer gesorgt, die ein Stück weiter gearbeitet und die Schienen erneuert haben. Ich frage mich, wie lange die Spätschicht geht. Muss unbedingt am Montag mit Pearce über diese Geschichte sprechen.« Markby stieß einen Seufzer aus. Er wollte Dave nicht verärgern, indem er sich benahm, als würde er ihm den Fall wegnehmen. Andererseits war es seine Aufgabe, sich um den Fortgang der Ermittlungen zu kümmern. Meredith war weitergegangen und suchte die Baumstämme ab.
»Ich glaube, dieser hier war es.« Er ging zu ihr. Sie befanden sich sehr nah bei den Schienen. Zweifellos hatte sie den Baum von ihrem Platz im Waggon aus sehen können. Das Viadukt warf einen dunklen, relativ kurzen Schatten. Markby blickte auf seine Uhr. Später Vormittag, ungefähr die Zeit, zu der Merediths Zug vorübergekommen war.
»Hat die Sonne darauf geschienen?«, fragte er.
»Auf den Frosch? Ja, hat sie. Er hat sehr intensiv geleuchtet, und die Sonne hat sich in seinen schwarzen Glasaugen gespiegelt. Es war ein grauenhafter Anblick, überhaupt
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