In dunkler Tiefe sollst du ruhn: Mitchell & Markbys zwölfter Fall
ist das völlig egal, habe ich Recht?«, fragte sie. Der Kater rollte sich zu einer Kugel zusammen und steckte die Nase unter eine Vorderpfote. Meredith schlug den Straßenatlas auf und blätterte zur entsprechenden Gegend. Die Karte besaß zwar einen kleineren Maßstab als die im Regionalen Hauptquartier, über der Markby und Pearce gebrütet hatten, doch sie zeigte die umliegenden Farmen einschließlich Hazelwood.
Sonia konnte, sinnierte Meredith, ohne weiteres auf eigenen Beinen bis zur Eisenbahnböschung gegangen sein. Sie konnte dort an Ort und Stelle ermordet und ihr Leichnam die Böschung hinunter und außer Sicht geschleppt worden sein. Dies war das Szenario, das Jane eindeutig bevorzugte, weil es Hugh Franklin außen vor ließ. Doch es war eine Tatsache, dass selbst heute, im Zeitalter der individuellen Mobilität, die meisten Opfer von Tätern aus dem engeren Umfeld getötet wurden. Das hatte Alan ihr gesagt. Und diese Tatsache besaß eine grausame Logik. Abgesehen von den Fällen, in denen der Täter geistig krank war, handelte es sich meist um Personen, für die das Opfer entweder eine persönliche Bedrohung dargestellt hatte oder mit denen der Täter so eng verbunden war, dass nur der Tod des einen den anderen zu befreien vermochte. Das dritte Motiv war finanzieller Vorteil. Meredith wusste nicht, ob Sonia eine Lebensversicherung besessen hatte.
Doch angenommen, es handelte sich um einen jener seltenen Fälle, wo Mörder und Opfer einander vollkommen unbekannt waren? Oder flüchtige Bekannte? Dann spielte die unberechenbare Hand des Zufalls hinein. Sonia war über eine offene, einsame Landstraße spaziert und einem Fremden begegnet – oder jemandem, den sie nur flüchtig kannte. Andererseits wiederum gut genug kannte, sodass dieser flüchtige Bekannte angehalten und gefragt hatte, ob er sie ein Stück mitnehmen könnte. Dieser flüchtige Bekannte oder Quasi-Fremde war der Mörder. Warum? Nicht, dass so etwas nie geschah. Sex oder Raubmord waren in Fällen wie diesem häufige Motive.
Meredith kratzte sich am Kopf und stieß einen unzufriedenen Seufzer aus. Angenommen, Hugh Franklin hatte die Wahrheit gesagt – warum um alles in der Welt war Sonia zu dieser späten Stunde an der Eisenbahn entlangspaziert? Sie hatte die ganze Hazelwood Farm zum Umherwandern. Eine offene Straße war auch kein Ort für ein heimliches Stelldichein. Warum also nicht die gegenwärtige Theorie der Polizei akzeptieren, dass Sonia an einem anderen Ort umgebracht und ihr Leichnam anschließend zu der Böschung geschafft worden war?
Richtig, dachte Meredith. Wenn wir die Farm oder ihre unmittelbare Umgebung ausschließen, dann sind wir bei der Frage angelangt, wie weit Sonia in der ihr zur Verfügung stehenden Zeit gekommen sein kann. Sie war ärgerlich, als sie das Haus verlassen hat.
»Sie ist nach draußen gegangen, um jemanden zu treffen«, sagte Meredith laut.
»Sie ist davongerannt, um sich mit jemandem zu treffen, dem sie von ihren Problemen erzählen kann.« Früher einmal wäre dieser Jemand Bethan Talbot gewesen. Aber Bethan wohnte nicht mehr mit Simon Franklin zusammen, und Sonia hatte sich irgendwo anders eine Vertraute oder einen Vertrauten gesucht.
Meredith fuhr langsam mit dem Finger über die Karte. Sonia konnte, wenn sie wirklich schnell marschiert war, bis zur Cherry Tree Farm gekommen sein, dem nächsten Anwesen. Oder sogar bis zu der Ansammlung von Gebäuden, die von den Einheimischen Fox Corner genannt wurden, wie Meredith wusste. Das war eine nicht von der Hand zu weisende Möglichkeit. Fox Corner lag der Karte nach nicht weiter als zwei Meilen entlang der Straße von der Hazelwood Farm entfernt, und wenn man querfeldein marschierte, war die Distanz noch geringer. Der Mond hatte sehr hell geschienen in der fraglichen Nacht.
Meredith tippte mit der Fingerspitze auf die Ansammlung von Gebäuden. Ja. Weil dort mehr als eine Person lebte, standen die Chancen gar nicht schlecht, dass jemand Sonia bei ihrem hypothetischen Ausflug nach Fox Corner gesehen hatte.
Meredith trank ihren Tee aus, schaltete den Gasofen ab, ließ den Kater allein auf dem Sofa liegen und machte sich auf den Weg nach Fox Corner.
Glücklicherweise hatte es aufgehört zu regnen, als sie dort ankam. Sie parkte den Wagen unter ein paar Bäumen abseits der Straße und wanderte zwischen den verstreut liegenden Gebäuden der Ansiedlung umher. Es herrschte eine einsame, verlassene Atmosphäre. Der Wind war beißend und zerzauste ihre Haare.
Weitere Kostenlose Bücher