In einem Boot (German Edition)
oder wenn er es jetzt noch nicht getan hätte, dann ganz bestimmt in der Zukunft. Mrs Grant dagegen erklärte, die ganze Sache hätte sie in ihrer Überzeugung bestätigt, dass es keinen Gott gäbe. Und die kleine Mary Ann sagte: »Still doch, was spielt es denn für eine Rolle?« Dann begann sie zu singen und lud uns ein, in eine Hymne über die Gefahren auf See einzustimmen. Wir fühlten uns erhaben, waren Opfer und Erwählte zugleich. Es rührte mich zutiefst, als ich sah, dass sogar Mrs Grant mitsang – so groß waren unser Gefühl von Einigkeit und die Freude, am Leben zu sein.
Mary Ann hatte einen kindlichen Glauben an die wörtliche Auslegung der Bibel, während ich eine praktisch denkende Protestantin war. Ich begrüßte alles, was die Leute zu guten Taten ermunterte, aber ich hatte nie darüber nachgedacht, an welche Lehrsätze ich glaubte und an welche nicht. Die Bibel hielt ich in Ehren. Sie war für mich ein geschlossenes Buch, das im Lesezimmer meiner Mutter stand, wo wir uns einfanden, wenn es Zeit für unsere Gutenachtgeschichte war. Ich hatte auch eine eigene Bibel, aus der ich auf Anweisung meiner Sonntagsschullehrerin Abschnitte auswendig lernen musste, aber mein Buch war im Gegensatz zu dem meiner Mutter klein und wenig ehrfurchtgebietend, und nach meiner Konfirmation im Alter von elf Jahren verstaute ich es in einer Schublade und habe es seitdem nie mehr angerührt.
Mr Hardie bewahrte sich seinen Optimismus, legte sogar eine grimmige Fröhlichkeit an den Tag. »Wir haben Glück mit dem Wetter«, sagte er. »Der Wind kommt aus Südwest und ist nur schwach. Je höher die Wolken, desto trockener ist die Luft. Das Wetter wird halten.« Ich habe weder vorher noch jemals danach darüber nachgedacht, aber an diesem Tag, da draußen auf dem offenen Meer, wollte ich wissen, warum die Wolken weiß waren, wo sie doch aus Wasser bestanden, was nachweislich farblos war. Ich fragte Mr Hardie, weil ich glaubte, dass – wenn überhaupt jemand – er mir eine Antwort geben könne, aber er sagte bloß: »Das Meer ist blau oder schwarz oder hat alle möglichen Farben und die Gischt und die Schaumkronen auf den Wellen sind weiß und all das ist ebenfalls aus Wasser gemacht.« Mr Sinclair, den ich beobachtet hatte, wie er mit seinem Rollstuhl über das Deck der Zarin Alexandra gefahren war, mit dem ich aber noch nie ein Wort gewechselt hatte, meinte, er sei zwar kein Wissenschaftler, aber er habe gelesen, dass die Farbe etwas mit der Lichtbrechung zu tun habe und dass die Kälte in den oberen Luftschichten die versammelten Wassertropfen in Eiskristalle verwandle.
Bei einem anderen Thema befand sich Mr Hardie auf vertrauterem Terrain. Er erklärte uns, dass die Zarin Alexandra mit zwanzig Rettungsbooten bestückt gewesen war und dass mindestens zehn oder elf von ihnen erfolgreich zu Wasser gelassen worden waren, was bedeutete, dass wenigstens die Hälfte der fast achthundert Passagiere an Bord gerettet worden war. Zwei der Rettungsboote konnten wir in der Ferne sehen, aber was aus den übrigen geworden war, wussten wir nicht. Anfangs wies Mr Hardie die Ruderer an, sich den anderen Booten nicht zu nähern, aber Colonel Marsh sprach sich dafür aus, auf Rufweite zu gehen, um herauszufinden, ob vielleicht unsere Angehörigen in diesen Booten saßen. Mein Herz hüpfte vor Hoffnung, meinen Henry lebend und bei guter Gesundheit in einem der zwei Boote anzutreffen. Doch Hardie sagte nur: »Was würde das nützen, wo sie doch nichts für uns tun könnten oder wir für sie?«
»In der Vielzahl liegt die Stärke«, sagte Mr Preston, was mich zum Lachen brachte, obwohl er es ernst meinte. Mr Preston war Buchhalter, und ich dachte, er mache einen Witz.
»Sollten wir uns nicht wenigstens vergewissern, ob es ihnen gut geht?«, gab der Colonel zu bedenken, und Mr Nilsson stimmte ihm zu, obwohl er einer derjenigen gewesen war, die Mr Hardie dabei geholfen hatten, die Schwimmer von unserem Boot zu vertreiben. Er kam mir nicht vor wie jemand, der sich um seine Mitmenschen allzu große Sorgen machte.
»Und was, wenn nicht?«, gab Hardie scharf zurück. »Was dann? Versuchen wir dann auch noch, ihre Probleme zu lösen, neben unseren eigenen?« Dann murmelte er, er könne von hier aus sehen, dass eins der Boote genauso überfüllt sei wie unseres, und das andere liege zu leicht im Wasser.
»Was meinen Sie damit?«, fragte Mr Hoffman.
»Dass da irgendwas nicht stimmt, so viel ist klar.«
Während es ganz natürlich war, dass Mr
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