In einem Boot (German Edition)
Und wenn sich das Wetter verschlechtert, nehmt die Ruder zur Hand und sorgt dafür, dass ihr das Boot gegen den Wind steuert. So sitzt man am besten einen Sturm aus.« Dann wies er unsere Ruderer an, wieder etwas Abstand zwischen uns und das andere Rettungsboot zu bringen.
»Wollen wir nicht nachsehen, wer in dem zweiten Boot sitzt?«, fragte der Colonel, woraufhin Hardie verneinte und meinte, er habe genug gesehen.
Der Colonel brummte unzufrieden, ließ sich aber nicht auf eine Diskussion ein, und ob sich die anderen gerne gegen Mr Hardie auf seine Seite geschlagen hätten, vermag ich nicht zu sagen, denn sie schwiegen ebenfalls. Im Nachhinein betrachtet glaube ich, dass wir mit dem Versäumnis, uns mit dem zweiten, halbvollen Boot zusammenzutun, den größten Fehler begingen. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass Mr Blake noch mehr Leute ins Wasser geworfen hätte, und die Tatsache, dass Mr Hardie ihn kannte, hätte uns doch nur von Vorteil sein können. Ich fragte mich später oft, warum Mrs Grant nichts sagte. Vielleicht wollte sie es, kam aber nicht mehr dazu, weil der Colonel im nächsten Moment das Thema wechselte. »Woher wissen Sie eigentlich, was im Funkraum der Zarin Alexandra vor sich ging?«, fragte er Mr Hardie.
»Blake hat’s mir erzählt. Als sich das Feuer immer weiter ausbreitete, kam die Mannschaft an Deck, um beim Beladen der Rettungsboote zu helfen. Da geschah es, dass ich Blake begegnete. Es war Blake, der sagte: ›Du solltest mit ihnen gehen, mein Freund. Sie brauchen einen Matrosen an Bord, wenn sie überleben wollen.‹« Als Hardie das erzählte, blitzte eine Erinnerung in meinem Kopf auf. Ich hatte ihn am Tag der Katastrophe mit einem anderen Mann sprechen sehen. Unter normalen Umständen hätte ich vermutet, dass sie sich stritten, aber ringsum wurden Befehle gebrüllt und gellten Angstschreie. Die beiden Männer waren ähnlich gekleidet gewesen, allerdings war Mr Hardies Mantel schlicht und ohne jede Verzierung, während die Ärmelaufschläge des anderen Mannes mit Goldbrokat besetzt gewesen waren. Und ich glaubte mich zu erinnern, dass es jener Mann mit dem Brokatbesatz gewesen war, den Henry ansprach, als wir nach der Explosion an Deck eilten. Dann tauchte Mr Hardie auf, und ich verlor den Offizier aus den Augen. Er schien froh zu sein, uns an Mr Hardie loszuwerden, damit er sich wieder seiner eigentlichen Aufgabe zuwenden konnte. Ich muss zugeben, dass ich von dem Chaos, das um uns herum herrschte, völlig gefangen war. Ich kam erst wieder zu mir, als mich starke Arme packten und hochhoben. Als das Rettungsboot langsam nach unten schwebte, erhaschte ich noch einen letzten Blick auf Henrys besorgtes Gesicht. Ich sah ihn nie wieder.
Mr Hardie sagte noch andere ermutigende Dinge. Er versicherte uns erneut, dass wir uns nicht nur auf einer befahrenen Schiffsroute befänden, sondern darüber hinaus Kurs auf die Neufundlandbank genommen hätten, was in meinen Ohren solide und vertrauenswürdig klang, wie die Klippen von Dover oder das mächtige Marmorgebäude, in dem Henry gearbeitet hatte. »Es ist ja nicht so, dass wir uns in unbekannten Gewässern befinden. Die Gegend hier ist auf allen Seekarten verzeichnet«, sagte Hardie. Aber wie war das möglich? Wie konnte das Meer kartografiert sein? Verzweifelt schaute ich mich um. Es gab nichts, womit man einen Fleck des Ozeans vom anderen unterscheiden konnte, keine Wegmarkierungen oder Orientierungshilfen, nur die endlose blaue Weite, wohin man auch blickte, und mittendrin ein winziger Punkt: unser Boot.
Ich bewunderte Hardie von Anfang an. Er hatte kantige Kiefer und ein vorspringendes Kinn. Er hätte gut aussehend genannt werden können, wenn nicht das Leben auf See seine Züge vergrämt und sein Benehmen verroht hätte. Seine scharfen Augen blickten weder verschlagen noch unehrlich, wie mancher es von einem Matrosen erwartet hätte. Und selbst in der Enge unseres kleinen Bootes wusste er sich immer zu beschäftigen. Er schien die See nicht zu fürchten, er respektierte sie. Und er allein fand sich mit unserer Situation ab. Alle anderen haderten mit ihrem Schicksal. Mary Ann fragte jeden Einzelnen, ob er es hören wollte oder nicht: »Warum wir? Warum wir, lieber Gott? Warum wir?« Maria brabbelte vermutlich das Gleiche in ihrem kastilischen Dialekt. Der Diakon gab sich redliche Mühe, Antworten auf ihre Fragen zu finden, aber Mr Hardie hatte wenig Verständnis für derlei Konversation. »Man wird geboren, man leidet, man stirbt.
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