In einem Boot (German Edition)
Warum glauben Sie, dass ausgerechnet Sie etwas Besseres verdienen?«, wies er uns zurecht, als die Sanftmut des Diakons nicht die gewünschte Wirkung erzielte. Colonel Marsh murmelte nach jeder barschen Bemerkung von Mr Hardie: »In der Armee würde er damit niemals durchkommen«, als stünde es uns frei, uns irgendwo anders hinzubegeben – an Land etwa, auf den Rücken eines Pferdes, mit dem Colonel als unserem Kommandeur.
Hardies Ausführungen waren mit Details gewürzt, während die des Colonels, des Diakons und besonders die von Mrs Grant allgemeiner und eher philosophischer Natur waren. Hardie etwa sagte: »Wenn wir umsichtig sind, haben wir genug zu essen für fünf Tage, vielleicht für sechs.« Heute ist mir klar, dass in seiner Bereitschaft, unsere Situation genau zu bemessen, uns exakt zwischen dem dreiundvierzigsten und dem vierundvierzigsten Breitengrad zu halten, gepaart mit der Unfähigkeit zur Selbstkritik, der Ursprung seiner Macht lag.
Im Gegensatz dazu äußerte Mrs Grant vage und bedeutungslose Worte des Trostes. Trotzdem gefiel es mir, wenn sie sich an eine der Frauen wandte und fragte: »Wie geht es Ihrer Schulter?« Oder wenn sie eine Leidensgenossin aufforderte: »Machen Sie doch ein bisschen die Augen zu und denken Sie an etwas Schönes.«
Der Diakon hatte beschlossen, seinen Vorrat an lehrreichen Bibelversen zu durchwühlen und uns den einen oder anderen Spruch angedeihen zu lassen. Mir ging das auf die Nerven, aber Isabelle Harris, eine ernste Frau, die mit ihrer kränklichen Mutter gereist war, wandte sich oft an ihn und fragte: »Gibt es nicht einen passenden Spruch im Deuteronomium?« Woraufhin der Diakon gehorsam zitierte: »Jeder Ort, auf den eure Fußsohle treten wird, wird euch gehören: von der Wüste und dem Libanon und vom Strom, dem Strom Euphrat, an bis an das westliche Meer wird euer Gebiet sein.«
An diesem Morgen entwickelte sich ein Gefühl der Kameradschaft. Wir hatten erlebt, wie es in einem Rettungsboot zuging, in dem kein Mr Hardie saß, und wir dankten dem Schöpfer, dass er uns einen Anführer gesandt hatte, der sich mit Windrichtungen und Wetterphänomenen auskannte. Er trug ein Messer in einer schmierigen Scheide an seinem Gürtel. Er hatte die Fässchen aus dem Wasser gezogen, was mir zum damaligen Zeitpunkt völlig überflüssig erschienen war. Wer von uns hatte an jenem ersten, schrecklichen Tag an etwas anderes gedacht als an die eigene Rettung? Nur der Diakon und Anya Robeson durften sich mit Fug und Recht selbstlos nennen. Der Diakon hatte zugunsten des Kindes gesprochen, das im Meer getrieben war, und Anyas kleiner Charlie war unter ihrem Mantel verborgen, und wir alle wussten, dass sie mit Freuden tausend Tode für ihn gestorben wäre. Vielleicht war auch Mrs Grant selbstlos, denn sie streckte stets ihre Hand aus, damit sich jemand daran festhalten konnte, oder wandte einer verzweifelten Frau ihr ernstes Gesicht zu, auf dem ein Ausdruck tiefsten Mitgefühls und ehrlicher Sorge wie festgeklebt war.
Wie gesagt, der Schock ebbte ab oder besser gesagt: er wurde unterdrückt. Wir vergeudeten unsere Kraft mit Singen und Lachen und mit Gesprächen über alles, was uns gerade einfiel. Mr Hardie fing mit dem Geschichtenerzählen an: »Weiß irgendjemand von Ihnen, wie die Zarin Alexandra zu ihrem Namen kam?« Er berichtete uns, dass das Schiff an dem Tag getauft wurde, an dem Nikolaus und Alexandra zu Zar und Zarin von Russland gekrönt wurden. Mr Sinclair ergänzte, dass Nikolaus’ Vater die Eheschließung verboten hatte, aber als der Vater starb, heirateten die beiden kurz darauf. »Bis zur Krönung dauerte es allerdings noch mehr als ein Jahr. Während der Feierlichkeiten wurden Tausende von Bauern zu Tode getrampelt, als eine Panik wegen des Essens ausbrach. Nikolaus rechnete damit, dass der prächtige Ball zu seinen Ehren aus Respekt vor den Opfern abgesagt werden würde, aber das war nicht der Fall. Seine Berater drängten ihn, an dem Ball teilzunehmen, um seine französischen Gastgeber nicht zu brüskieren. Der Vorfall wird immer wieder als schlechtes Omen für die Herrschaft des Zaren genannt und als Beweis für die Kaltherzigkeit der Autokratie.«
»Wie auch immer«, sagte Mr Hardie, »das Schiff war nicht so groß wie andere seiner Klasse und die Besitzer wollten ihm wenigstens einen großen Namen geben. Trotzdem, sie war gut ausgestattet und hätte einen hübschen Profit einfahren können …« Hardies Stimme wurde leiser, und er verlor den Faden. Er
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