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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alix Ohlin
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Habe ich irgendwas Falsches gesagt?»
    Sie hatte einen Witz machen wollen, aber er fixierte sie mit wutentbranntemBlick. «Ja, Grace. Dauernd stellst du irgendwelche Fragen in deinem Therapeutenjargon, um einem weiß Gott noch was alles zu entlocken!»
    Nur mit der Ruhe, sagte sie sich. Bleib locker. Langsam schenkte sie sich ein Glas Wein ein, sah zu, wie sich das Glas mit einem kleinen dunklen Meer füllte. «Warum regt es dich so auf, wenn ich dir ein paar harmlose Fragen stelle?», gab sie dann zurück.
    «Ach, scheiß drauf. Wenn du’s nicht selbst weißt, kann ich dir auch nicht helfen.»
    «Doch, das kannst du», gab sie leise zurück. «Du willst es nur nicht.»
    «Da hast du den Nagel auf den Kopf getroffen», sagte Tug. «Eigentlich habe ich überhaupt keine Lust mehr, mit dir zu reden.» Er legte das Messer beiseite, verließ die Küche und dann die Wohnung.
    Grace blieb mit dem halb geschnittenen Gemüse und den noch vollen Gläsern in der Küche zurück. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Selbst während ihrer dunkelsten Stunden – gerade dann – hatten weder Mitch noch sie jemals eine Diskussion damit beendet, dass einer von ihnen den anderen einfach stehen gelassen hatte. Egal wie sehr sie voneinander entfernt, wie zornig oder todtraurig sie gewesen waren, stets hatten sie ein geradezu nervtötendes Bedürfnis gehabt, sich dem anderen zu erklären. Und seit ihrer Trennung hatte sie niemanden mehr gut genug kennengelernt, als dass sie eine Auseinandersetzung so sehr getroffen hätte, von Tugs wortlosem Abgang ganz zu schweigen.
    Sie war sprachlos. Sie packte das Fleisch und Gemüse in Tupperdosen, trank den Wein und ging zu Bett, ohne etwas gegessen zu haben. Dort lag sie auf dem Rücken, nahm Tugs Lieblingsstellung ein, als könne sie auch seine Psyche erfassen, indem sie ihn körperlich nachahmte. Aber natürlich kam sie ihm kein bisschen näher, sondern fühlte sich nur noch einsamer als zuvor.
    Gegen Mitternacht läutete es an der Tür. Als sie öffnete, stand ervor ihr. Sein Mantel war nass vom Schneeregen, seine Locken glänzten feucht und dunkel. Er wirkte völlig erschöpft.
    «Es tut mir leid», sagte er.
    Wäre sie kräftig genug gewesen, hätte sie ihn hereingetragen. Stattdessen machte sie die Tür ganz auf und trat einen Schritt zurück. Auf dem Weg ins Schlafzimmer zog er Mantel und Pullover aus, fuhr sich durch die nassen Locken, während er erklärte, er sei müde und gereizt und er würde später mit ihr über alles reden, und so krochen sie schließlich zusammen ins Bett. Sein Puls raste wie der eines verängstigten Tiers. Er hauchte ihr einen Kuss ins Haar.

    Am nächsten Morgen sah er müde aus; sein Gesicht war faltig und zerfurcht, die Wangen stoppelig. Seine Hände waren rau, seine Haut schuppig. Das Leben schien ihn ausgezehrt zu haben. Am liebsten hätte sie ihm all ihre Energie geschenkt, sie in seinen Blutkreislauf, seine Organe fließen lassen, ihm die Luft ihrer Lungen eingehaucht. Er lag hinter ihr, die Brust an ihren Rücken geschmiegt. Sie weinte. Es gelang ihr nicht, die Tränen zurückzuhalten; ihr Gesicht ruhte in seiner Armbeuge, und sie spürte die Härchen an ihrer Wange.
    «Es tut mir leid», sagte er. «Bitte hör auf zu weinen.»
    Sie nickte, obwohl sie den Kopf kaum bewegen konnte, so fest hielt er sie umklammert. «Du brauchst ärztliche Hilfe», sagte sie. «Mit den richtigen Medikamenten …»
    «Du kommst zu spät zur Arbeit», sagte er leise und küsste sie auf die Wange. «Mach dir keine Sorgen. Das wird schon wieder. Es hilft schon, wenn ich mit dir zusammen sein kann.»

    Ein paar Wochen vergingen, und Tug schien sich zu erholen. Er begann wieder mehr von seiner Zeit in Ruanda zu erzählen, den anderen Entwicklungshelfern, der hügeligen Landschaft, den Menschen, die dort lebten. Er sprach auch über Marcie, darüber, wie er sie ein ums andere Mal enttäuscht und doch immer so weitergemacht, sich in seinem Versagen eingerichtet hatte, das für ihn gleichsam zu einem gemütlichen neuen Zuhause geworden war. In den unmöglichsten Momenten sprudelten urplötzlich seine Erinnerungen aus ihm heraus. Einmal waren sie in einem Supermarkt, als er sich an der Fleischtheke unerwartet zu ihr drehte und von einem Mann zu erzählen begann, der irgendwo am Straßenrand gelegen hatte; sein Körper war mit klaffenden Wunden übersät gewesen – und lauter Fliegen, die nur darauf gewartet hatten, dass er endlich starb. Grace hörte ihm zu und nickte, bis er seinen

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