In einer anderen Haut
nur ein Unwetter», sagte er verdutzt. «Der Strom ist sicher gleich wieder da.»
Sie saß auf dem Sofa, und auf dem Wohnzimmertisch brannten Kerzen. Dann fielen ihm die zwei fast leeren Weingläser ins Auge.
«Es tut mir leid», brachte sie schluchzend hervor.
Er verstand kein Wort. «Schon okay», sagte er.
«Gar nichts ist okay», widersprach sie, zog die Knie an und senkte den Kopf. «Ich weiß, ich hätte mehr Geduld aufbringen müssen, aber ich war so allein. Ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten.»
Tug hatte Mühe, sich auf sein Gegenüber zu konzentrieren, dieseFrau, ihre Tränen. Wie durch einen Schleier nahm er ihre Worte wahr.
«Du willst sicher wissen, wer es ist», fuhr sie fort. «Es ist Jake. Ich weiß, es ist schrecklich, aber er und Joanne haben eine Krise, und er und ich haben, na ja, irgendwie Trost beim anderen gesucht. Die alte Geschichte.»
«Wer ist Jake?», fragte Tug.
Marcie hob den Kopf, strich sich das blonde Haar hinter die Ohren und holte tief Luft. Ihre Stimme klang scharf und bitter, als sie weitersprach. «Jake und Joanne Herschfeld», erklärte sie, «sind Freunde von uns. Wir waren letztes Wochenende mit ihnen zum Essen aus.»
«Oh», gab er zurück. «Ach so.»
«Du bist doch mit dem Kopf ganz woanders», fauchte sie ihn an. Dann aber war ihre Wut auch schon wieder verflogen, und sie begann erneut zu weinen. «Es tut mir leid, es tut mir so leid», schluchzte sie. «Ich habe alles kaputt gemacht. Ich hätte hinter dir stehen müssen. Ich bin der letzte Dreck!»
Da sie ihn rührte, legte er die Hand auf ihr Knie; später sollte sie ihm erzählen, dass er sie zum ersten Mal seit Monaten angefasst hatte. Er wollte irgendetwas sagen, um sie aufzumuntern, doch als er auf seine Finger blickte, dachte er unwillkürlich an ein Kind, das durch fremde Straßen lief, seinen eigenen abgehackten Arm in der Hand.
«Ach.» Er sah sie an. «Es gibt Schlimmeres.»
Als die Stromversorgung wieder funktionierte, war sie bereits zu ihren Eltern gezogen. Im Lauf der nächsten Tage holte sie ihre Sachen ab, und dann war sie endgültig fort.
Hätte er traurig sein sollen? Ja, wahrscheinlich, aber er war es nicht. Tatsächlich fiel ihm ein Stein vom Herzen, da er nun nicht länger verpflichtet war, über die Zukunft nachdenken zu müssen, die ihm ohnehin nichts mehr bedeutete. Er fühlte sich so erleichtert wie nie zuvor in seinem Leben.
Von dem Tag auf dem Berg erzählte er nicht viel, nur dass die Vorstellung, nicht mehr um drei Uhr morgens vor dem Fernseher sitzen und auf das Ende der Nacht warten zu müssen, gefährlich verlockend gewesen war. Es war ihm wie ein Luxus, fast wie eine Belohnung erschienen. Er sagte mit keinem Wort, dass er hatte sterben wollen.
Stattdessen sagte er: «Ich wünschte, ich wäre in Afrika geblieben.»
Als Grace ihm dafür dankte, dass er ihr all das erzählt hatte, zuckte er mit den Schultern. «Am Ende macht es keinen Unterschied, ob man seine eigene oder irgendeine andere schreckliche Geschichte erzählt», sagte er. «Solche Dinge passieren eben, jeden Tag auf der ganzen Welt.»
9
Montreal, 1996
Nachdem sie die Wahrheit über Tug erfahren hatte, glaubte Grace, dass sich zwischen ihnen nun alles ändern würde; es war, als hätte sie eine Grenze durchbrochen, als wäre sie Tug endlich nähergekommen. Auch Tugs Verhalten hatte sich geändert – er sagte, er sei froh, sich alles von der Seele geredet zu haben, froh, dass sie verstünde, warum er alles so lange für sich behalten hätte. Doch nun habe er sich genug mit seiner Vergangenheit beschäftigt, und es sei an der Zeit, wieder nach vorne zu sehen.
«Ich bin nicht mehr der Mensch, der ich einmal war», sagte er. «Ich muss mich endlich wieder an das Leben in den Komfortländern gewöhnen.»
«Komfortländer?», fragte Grace.
«Das habe ich mal bei einem anderen Entwicklungshelfer aufgeschnappt. Er meinte, richtig schwierig würde es erst, wenn man aus der Dritten Welt zurück sei. Supermärkte. Überall Autos. Tausend Angebote. Das meinte er.»
«Aber es ist doch nicht schlecht, so etwas wie Supermärkte zu haben, oder?»
«Nein», erwiderte er. «Überhaupt nicht.»
In diesem Komfortland herrschte ein kalter Frühling. Grace und Tug gingen bei jeder sich bietenden Gelegenheit langlaufen. Sie liebte es, wenn er ihr mit weit ausholenden Schritten voranlief,seine breiten Schultern sich gegen den grauen Himmel abzeichneten; manchmal wandte er den Kopf, um zu sehen, ob sie noch da war, und
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