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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alix Ohlin
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einen Schwangerschaftstest in der Hand – das kleine Pluszeichen im Sichtfeld des Stäbchens bestätigte lediglich, was ihr Körper ihr ohnehin schon länger sagte –, als das Telefon klingelte. Sie ging nicht dran. Sie wusste nicht, was sie jetzt machen sollte. Im Grunde hatte sie sich immer ein Kind gewünscht; zu Beginn ihre Ehe, lange bevor sie in die Brüche gegangen war, hatten Mitch und sie darüber gesprochen,und einmal, auf einer Fahrt zu ihren Eltern, hatte sie, einem spontanen Impuls folgend, in einem Dorf eine handgestrickte lila Babymütze gekauft. Mit der Scheidung und deren Folgen hatte ihr Kinderwunsch seine Dringlichkeit verloren, nun aber spielte sie trotz allen Unglücks mit dem Gedanken, das Baby zu bekommen.
    Der Anrufer ließ nicht locker. Das Telefon klingelte weiter. Sie legte das Teststäbchen beiseite und ging ins Wohnzimmer, um den Anruf entgegenzunehmen.
    Es war Annies Mutter. Sie klang völlig hysterisch, brachte die Worte nur stammelnd über die Lippen: «Wie konnte das passieren? Wo steckt sie nur?»
    Grace hörte zu, ohne genau zu verstehen, wovon sie redete. Offensichtlich war Annie verschwunden, hatte eine Nachricht hinterlassen, dass sie nie wieder zurückkommen würde und sie nicht nach ihr suchen sollten.
    «Wie konnte sie uns das nur antun?», schluchzte Annies Mutter.
    Grace murmelte irgendetwas Vages, versuchte so tröstlich zu klingen wie möglich, konnte sich aber kaum konzentrieren.
    «Ich verstehe das alles nicht», sagte Annies Mutter. «Wer macht denn so was? Menschen verschwinden doch nicht einfach so.»
    Dann fand Grace die richtigen Worte des Zuspruchs, und schließlich telefonierten sie über eine Stunde miteinander. Die ganze Zeit aber dachte sie: Doch, Menschen verschwinden einfach so. Jeden Tag.

10
Los Angeles, 2003
    Als Anne aus Edinburgh zurückkam, fand sie fünf Nachrichten von ihrer Agentin Julia auf ihrem Anrufbeantworter vor, eine enthusiastischer als die andere.
    «Darling», lautete die letzte. «Das ist eine Riesensache. Ruf mich sofort zurück, wenn du wieder da bist.»
    Anne stand in ihrer heißen, stickigen Wohnung, ihre noch nicht ausgepackte Tasche neben sich auf dem Sofa. Obwohl so gut wie nichts mehr an Hilary und Alan erinnerte, fühlte sie sich nach wie vor fremd in ihrem Apartment. Sie öffnete die Fenster und warf einen Blick in den leeren Kühlschrank. Im Schlafzimmer fand sie eine verwelkte Topfpflanze hinter dem Vorhang. Hilary musste sie gekauft haben.
    Außer Julia gab es niemanden, den sie anrufen müsste, um zu sagen, dass sie wieder zu Hause war.
    Am frühen Morgen lief sie fünf Meilen, und um halb acht hatte sie bereits geduscht und starrte nervös auf die Wohnzimmeruhr. Da Julia nie vor zehn in ihrem Büro war, ging sie erst einmal einkaufen und zur Maniküre. Es war ein wunderschöner Tag Ende August, warm, aber nicht so schwül wie gewöhnlich. Der Jahrestag des 11. September stand kurz bevor, und zum Gedenken an die Opfer wurden allenthalben Blumen niedergelegt, Fotos aufgehängt und Feiernangekündigt; die Leute wirkten gleichzeitig traurig, gereizt und unbeugsam. Anne registrierte all das nur insofern, als sie diese Dinge am liebsten komplett ausgeblendet, das Datum überhaupt nicht zur Kenntnis genommen hätte, wäre es möglich gewesen. Dennoch erinnerte es sie plötzlich an Hilarys Geburtstermin; das Baby musste inzwischen zur Welt gekommen sein.
    Zurück in ihrer Wohnung, rief sie Julia an, deren Assistentin sie sofort durchstellte, was bislang noch nie passiert war.
    «Darling», sagte Julia. «Wo zum Teufel hast du denn gesteckt?»
    «Das weißt du doch. Ich habe in Schottland auf der Bühne gestanden.»
    «Du und deine Theaterrollen», meinte Julia. Sie versuchte jovial zu klingen, doch ihre Herablassung war nicht zu überhören. Julias Ziel war, ihre Klientinnen in der Zahnpastawerbung unterzubringen oder ihnen notfalls einen Job als Model zu verschaffen, kurz: Gesichter zu verkaufen. «Du hast Schwein gehabt, dass sie gewartet haben. Anscheinend hast du’s dem Typ echt besorgt.»
    Unwillkürlich kam Anne dieser Kerl namens Sergio in den Sinn, wie er wutentbrannt auf sie losgegangen war, nachdem sie ihn in jener Gasse in Edinburgh in die Eier getreten hatte. Sie verscheuchte das Bild und fragte: «Welchem Typ?»
    «Michael Linker», erwiderte Julia, als wäre der Name allgemein bekannt. «Er hat dich auf Long Island in diesem Megaheuler gesehen.» Zuletzt hatte Julia den «Megaheuler» noch ein Meisterwerk des

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