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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alix Ohlin
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seine Schwester oder seine Exfrau zu informieren. Sie hatte kaum Wurzeln in seinen Boden geschlagen, und nun war ihr der Boden selbst unter den Füßen weggerissen worden.
    An jenem Abend schlief Azra um elf auf dem Sofa ein, und Grace lag allein in ihrem Bett, immer noch wach. Sie wünschte sich sehnlichst, mit jemandem zu reden, und um ein Haar hätte sie Azra aufgeweckt. Aber sie tat es nicht, weil es nur einen Menschen gab, mit dem sie sprechen wollte: Tug.

    Die Beerdigung fand in Toronto statt, wo seine Schwester lebte. Azra fuhr Grace hin und zurück. In der Kirche saßen sie ganz hinten. Sie sprachen mit niemandem; Grace wollte sich nicht aufdrängen, nachdem Tug sie seinen Verwandten nie vorgestellt hatte. Obwohl sie für gewöhnlich keine Tabletten nahm, schluckte sie ein paar Valium, um den Tag überstehen zu können. Die ganze folgende Woche kam sie nicht ohne Pillen aus.
    Dann stellte sie fest, dass sie sich danach sehnte, wieder zu arbeiten, sich in der Welt anderer Menschen zu verlieren. Ihre Patienten waren ihre einzige Ablenkung, die Sitzungen die einzige Zeit, in der sie nicht dauernd ihren Gedanken nachhing, und sie war unendlich dankbar dafür. Sie brauchte ihre Patienten genauso sehr, wie diese sie brauchten, vielleicht sogar mehr.
    Doch jeden Abend saß sie wieder zu Hause, von Weinkrämpfen geschüttelt, gefangen in ihrer Wut auf ihn, gelähmt vor Trauer, wenn sie auf der Toilette saß, unter der Dusche stand oder hilflos auf dem Wohnzimmerteppich kauerte.
    Unablässig schweiften ihre Gedanken zurück zu jenem Tag auf dem Berg, während sie sich daran erinnerte, dass sie sich um ein Haar für eine andere Route entschieden hätte, dass sie einen Sekundenbruchteil lang sogar erwogen hatte, ihn einfach dort liegen zu lassen – Entscheidungen, die sie davor bewahrt hätten, diesen Schmerz nun ertragen zu müssen.
    Doch nichts von allem – die Tränen, die Fragen, ihre Entscheidungen, ihre Erinnerungen – änderte etwas an der Tatsache, dass er nicht mehr da war.

    Jeden Morgen waren ihre Augen rot und verquollen; ihre Kehle fühlte sich rau und trocken an. Als sie eines Freitagmorgens aufwachte, stellte sie fest, dass es über Nacht geschneit hatte – wahrscheinlich zum letzten Mal in diesem Jahr. Im Dämmerlicht rief sie ihre Sprechstundenhilfe an und bat sie, alle Termine für den Tag abzusagen. Dann verstaute sie ihre Skier im Wagen und fuhr über den Highway Richtung Westen zum Gatineau Park, während weiter Schnee vom Himmel rieselte. In diesem Gebiet war sie immer mit Mitch langlaufen gewesen; es schien ein ganzes Leben her zu sein. Mit Tug war sie nie dort gewesen.
    Sie hatte vor, sich in der stillen, weißen Landschaft restlos zu verausgaben. Sie begann zügig loszulaufen, mit weit ausholenden Schritten, die Bindungen fest angezogen; ihr Atem kam stoßweise, und ihr Herz hämmerte mit schnellen Schlägen. Trotz des Schlafmangels war sie voller Energie, bereit, sich der Belastung zu stellen. So fühlte sie sich immer kurz vor ihrer Periode, obwohl sie diesen Monat überfällig war; wahrscheinlich hatte sie in letzter Zeit einfach zu viel durchgemacht. Ein Verdacht flackerte vor ihrem geistigen Auge auf wie ein Neonschild in weiter Ferne, das erlosch undkurz darauf wieder zum Leben erwachte. Es war möglich, zumindest nicht unmöglich. Auch wenn sie kein Teenager mehr war. Sie passte immer auf. Aber wie ihre Mutter immer zu ihr gesagt hatte: Bei jeder Verhütungsmethode gibt es auch eine Versagerquote.
    Sie war so in Gedanken versunken, dass sie aus der Spur geriet und um ein Haar gegen einen Baum geprallt wäre. In letzter Sekunde gelang es ihr auszuweichen, während ihr rechter Stock in hohem Bogen durch die Luft flog. Sie sauste geradewegs auf eine Gruppe dürrer Birken zu, doch dann hatte sie die Bäume hinter sich gelassen und stand auf einer Lichtung, allein inmitten von Weite und Schnee.
    Sie verharrte, um wieder zu Atem zu kommen; ihre Beine zitterten, ihre Nase lief. Zwanzig Meter entfernt von ihr stob ein Fuchs durch den Schnee. Sie tat so, als wäre Tug bei ihr, wandte sich zu ihm und streckte die Hand aus. In jenem Moment glaubte sie, dass er immer bei ihr sein würde, stets der Erste, dem sie von außergewöhnlichen oder ganz banalen Dingen erzählen würde, stets derjenige, dessen Bestätigung sie suchte, auf immer seine Stimme im Ohr.
    «Tug», sagte sie laut. Dann kniete sie nieder und vergrub ihr Gesicht im Schnee.

    Zwei Wochen später stand sie in ihrem Badezimmer,

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