In einer anderen Haut
ihr Herz schlug höher, weil sie ihm wichtig zu sein schien.
Die Wochenenden verbrachten sie ebenfalls zusammen, außer wenn Tug samstags arbeiten musste. Sie gingen ins Kino oder blieben bei Grace und kochten zusammen. Während der Eintopf vor sich hin köchelte oder sie darauf warteten, dass der Braten gar wurde, lasen sie, dösten oder unterhielten sich miteinander. Er stellte ihr tausend Fragen, und sie hatte genauso viele an ihn. Nun konnten sie über wirklich alles reden. Er wollte alles über ihre Kindheit und ihre Ehe mit Mitch wissen; sie erzählte ihm sogar von Kevin und dem Kind, gegen das sie sich entschieden hatte. Sie erfuhr alles über seine Jugend, seine erste Freundin, das Ferienhaus seiner Familie in Muskoka, seine Schwester in Toronto und ihre zwei verwöhnten Kinder.
Meistens schien es Tug gut zu gehen, aber manchmal bekam er Wutanfälle wegen Dingen, die sie völlig harmlos fand. War ihm ein Film zu blöd, verließ er den Kinosaal, verzog sich ins Foyer und taperte dort auf und ab, während ihm die Platzanweiser besorgte Blicke zuwarfen. Nach und nach begann sie seine Schlaflosigkeit zu verstehen; in ihm brodelte es so sehr, dass sich seine Muskeln verspannten. Dieselbe Explosivität äußerte sich im Bett, wenn er sie unter seinem Körper begrub, sie von oben bis unten mit Küssen bedeckte und ihr rau ins Ohr murmelte. Hielten sie sich hinterher in den Armen, strömte er eine so gewaltige Hitze aus, dass seine Brust glitschig vor Schweiß war.
Aber diese Dinge störten Grace nicht besonders, da Tug sich sonst wohlzufühlen schien. Sorgen machte ihr, dass sie nie mit ihm über ihre Arbeit und ihre Patienten sprechen konnte. Nie fragte er, wie ihre Sitzungen verlaufen waren, und wenn sie irgendetwas erzählte, wechselte er so schnell und höflich wie möglich das Thema, machte einfach dicht. Aber offensichtlich hatte er so viel durchgemacht, dass er nicht auch noch mit den Traumata anderer Menschenbelastet werden wollte. Sein Verhalten hatte sogar etwas für sich, da sie auf diese Weise klar zwischen Beruf und Privatleben trennen konnte. Ihr Arbeitstag war in der Sekunde beendet, wenn sie ihre Praxis verließ, und da ihr Job zwischen ihnen stets ausgeblendet wurde, beschäftigte sie sich automatisch weniger damit. Tagsüber konzentrierte sie sich voll und ganz auf ihre Patienten, abends kümmerte sie sich vorrangig um Tug.
Wenn sie ihn zum Lachen brachte, verspürte sie eine fast körperliche Befriedigung. Ihn zu verstehen, seine tiefsten Tiefen auszuloten, schien ihre Berufung, eine für sie maßgeschneiderte Aufgabe zu sein. Er war ein komplizierter Mensch, und ihre Beziehung gestaltete sich schwierig, trotzdem empfand sie das Zusammenleben mit ihm als irgendwie perfekt. Auf so etwas hatte sie jahrelang gewartet.
Eines Sonntags hatten sie zusammen shoppen gehen wollen. Sie benötigte eine neue Espressomaschine und ein paar andere Küchenutensilien und wollte ihm einen Laden in Little Italy zeigen, den sie besonders mochte. Die Nacht zuvor hatten sie getrennt verbracht; Tug hatte sich nicht wohlgefühlt und früh zu Bett gehen wollen. Am Morgen aber war er nicht vorbeigekommen, was ganz und gar nicht seiner Art entsprach; bislang hatte er sich noch kein einziges Mal als unzuverlässig erwiesen. Obendrein ging er nicht ans Telefon.
Da sie befürchtete, er habe sich vielleicht einen Infekt eingefangen, fuhr sie zu seiner Wohnung und klingelte. Es brannte kein Licht, und von drinnen war nichts zu hören. Er hatte ihr keinen Schlüssel gegeben, aber als sie den Türknauf drehte, stellte sie fest, dass nicht abgeschlossen war. Sie trat ein. «Tug?», rief sie leise.
Sie verbrachten die meiste Zeit bei ihr, und seit ihren ersten gemeinsamen Wochen war sie nur noch selten in seiner Wohnung gewesen. Viel hatte sich nicht verändert. Nach wie vor herrschte überall penible Ordnung: nirgendwo Staub, keine herumliegenden Sachen, nicht mal Post war irgendwo zu sehen. Während sie sich fragte, wohin er eigentlich alles räumte, rief sie abermals seinen Namen.
Als sie keine Antwort bekam, stieg sie die Treppe hinauf. In der Wohnung war es so still, dass sie im ersten Moment dachte, er sei gar nicht da. Dann betrat sie sein Schlafzimmer – und blieb abrupt stehen.
Er lag auf dem Bett und starrte mit offenem Mund an die Zimmerdecke. Um seine Lippen hatte sich weißer Schaum gesammelt. Sekunden später beugte sie sich über ihn, zerrte an seinen Hemdärmeln und schüttelte ihn, während ihr Puls zu
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