In einer anderen Haut
Vortrag schließlich mit einem «Nun ja, auch egal» beendete, sich an den Verkäufer wandte und ihre Lammkoteletts bestellte. Erst als sie gingen, bemerkte sie die Blicke der anderen Kunden, die ihnen argwöhnisch und fassungslos hinterherstarrten.
Ein andermal waren sie mit ihren Freunden Azra und Mike zum Abendessen in einem portugiesischen Restaurant in der Duluth Street. Anfangs lief alles bestens. Sie tranken zwei Flaschen Wein, unterhielten sich über das Essen, die Kälte draußen und Azras Job. Azra, die seit der Highschool mit Grace befreundet war, arbeitete als Zahnärztin in Côte St.-Luc und witzelte wie so häufig darüber, dass sie eine Gemeinschaftspraxis eröffnen sollten – so würden sie die Pausen zusammen verbringen können.
«Wir sind ja beide Klempner», sagte sie lachend, als das Dessert serviert wurde. «Ich Zähne, du Seele.»
«Du bist betrunken», sagte Mike liebevoll.
«Und was meinst du dazu, Tug?», fragte Azra.
Er antwortete nicht. Als Grace ihm einen Seitenblick zuwarf, sah sie, dass seine Wangen gerötet waren. Schweiß stand auf seiner Stirn. Sie legte eine Hand auf seinen Oberschenkel, spürte aber, dassihre Geste ihn nicht beruhigte. Tatsächlich schien er ihre Berührung überhaupt nicht wahrzunehmen.
«Ich meine, dass du einen Haufen Scheiße erzählst», sagte er.
Azra zog die Augenbrauen hoch. «Wie bitte?»
«Dir gefällt es doch, anderen Leuten Schmerzen zuzufügen. Grace macht so was nicht. Menschen, die körperliche Schmerzen ertragen müssen, können keinen klaren Gedanken mehr fassen. Wenn du das nicht erkennen kannst, hast du sie echt nicht mehr alle.»
«Ich habe doch nur Spaß gemacht», sagte Azra.
«Tug», sagte Grace leise.
Im selben Moment stand er abrupt auf und verließ das Restaurant.
Azra starrte sie mit offenem Mund an, aber Grace schüttelte den Kopf. «Es hat nichts mit dir zu tun», sagte sie.
«Womit dann? Du liebe Güte, was ist denn in den gefahren?»
«Er hat viel durchgemacht. Eigentlich ist es sogar ein gutes Zeichen, dass er Gefühle zeigt. Das heißt, dass er sie nicht unterdrückt.»
Azra legte eine Hand auf ihren Arm. «Pass auf dich auf», sagte sie.
Als Grace in ihre Wohnung zurückkam, war er nicht da. Doch als sie am Morgen aufwachte, lag er neben ihr, seine Finger mit den ihren verschränkt. Sie wandte sich um und gab sich ihm hin, so sanft, als wäre er krank oder verletzt, und als sie sich geliebt hatten, presste er sich immer noch an sie, als wollte er sie nie mehr loslassen.
So lief es eben: Mal war alles wunderbar, mal unerträglich. Und in dieser Hinsicht unterschied sich ihr Leben wohl kaum von dem anderer Paare, oder?
An jenem Dienstagmorgen im April hatte sie mit nichts Außergewöhnlichem gerechnet. Dann aber wurde sie bei einer Sitzung von einem Klopfen an der Tür unterbrochen. Sie dachte, es wäre vielleicht ihre vorherige Patientin, die ihren Schirm oder sonst etwas vergessen hatte. Doch als sie die zwei Sûreté-du-Québec-Beamten in ihren blauen Uniformen erblickte, schwante ihr bereits, was passiert war; in ihrem tiefsten Inneren hatte sie immer gewusst, dass es eines Tages passieren würde.
Es waren ein Polizist und eine Polizistin.
«Madame», sagte die Polizistin. «Sind Sie Grace Tomlinson?»
Sie nickte und führte die Beamten in den Empfangsbereich. Platz nehmen wollten sie nicht; verlegen standen sie vor ihr wie Partygäste, die zu früh eingetroffen waren.
«Sie sind eine Bekannte von John Tugwell?», fragte die Beamtin.
«Ja», antwortete sie. Ihre Brust fühlte sich an, als wäre sie zu Eis gefroren.
Die Beamtin griff in die Tasche ihrer schweren Uniform, entfaltete ein Blatt Papier und hielt es Grace hin. Sie nahm es nicht entgegen, sondern starrte nur auf den Zettel, auf dem ihr Name stand. Und noch vier weitere Worte:
Es tut mir leid
.
«Wir haben ihn oben auf dem Berg gefunden», sagte der männliche Beamte.
Ihr war bewusst, dass es feige war, jetzt einfach in Ohnmacht zu fallen, doch blieb ihr keine andere Wahl, als sich der ganzen Situation so schnell wie möglich zu entziehen. Es gelang ihr einfach nicht, couragiert und gefasst zu reagieren, all das im Vollbesitz ihrer Kräfte durchzustehen. Nicht hier, nicht jetzt. Und so ließ sie los, ließ sich einfach fallen.
Azra leistete ihr Beistand, blieb in den endlosen, leeren Stunden bei ihr. Alles war Grace aus den Händen genommen worden: Es stand ihr nicht zu, die Leiche zu identifizieren, die Beerdigung in die Wege zu leiten,
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