In einer anderen Haut
Eingehüllt von der Wärme der Autoheizung, überkam sie ein Gefühl der Erschöpfung, das seltsam an Zufriedenheit grenzte. War das genug? Hatte sie bereits gefunden, wonach sie suchte? Sie schaltete das Radio an, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Auf CBC lief eine Oper, und eine Frauenstimme segelte leicht und beschwingt durch eine Arie, die Grace nicht erkannte.
Sie beschloss, ein paar Minuten zu schlafen, ehe sie wieder zurückfahren würde.
Als sie hörte, wie eine Tür geschlossen wurde, öffnete sie die Augen. Und da war Tugs Mutter, eine kleine alte Dame, die den gepflasterten Weg herunterkam, der vom Haus zur Straße führte. Sie trug einen dunkelroten Regenmantel, zog den Kopf gegen den Regen ein und presste ihre Handtasche an den Bauch, als wäre ihr ebenfalls übel. Sie ging zu dem kastanienbraunen Honda, hinter dem Grace parkte, doch da sie den Kopf gesenkt hielt und der Regen stärker wurde, lief Grace kaum Gefahr, von ihr bemerkt zu werden. Dann öffnete sich die Haustür abermals, und eine andere Frau – blond, hübsch und viel jünger – trat heraus. Erneut zog sich Grace’ Magen zusammen. Sie hatte Marcie schon bei der Beerdigung gesehen.
Als könne sie Grace’ Gedanken hören, richtete Marcie den Blick auf ihren Wagen. Den Regen schien sie kaum wahrzunehmen, während sie mit undefinierbarem Gesichtsausdruck zu Grace hinübersah. Grace konnte kaum fassen, wie hübsch Marcie war.
Als die Scheibenwischer erneut den Regen von der Windschutzscheibe fegten, trafen sich ihre Blicke, und einen Augenblick später kam sie den Pfad herunter, trat an den Wagen und klopfte ans Fahrerfenster. Grace, die sich wie in einem Traum vorkam – ließ es herunter.
«Ich kenne Sie doch», sagte Marcie. «Sie waren bei Tugs Beerdigung.»
Grace nickte. Ihre Zunge fühlte sich pelzig und geschwollen an. Mit zusammengezogenen Augenbrauen wartete Marcie darauf, dass Grace etwas sagte.
Grace schluckte. «Ich war mit Tug befreundet.»
Marcie zog eine Grimasse. «Darauf hätte ich gewettet», sagte sie.
Das hatte Grace nicht erwartet. «Pardon?»
Marcie sah zu dem Auto von Tugs Mutter hinüber; der Motor lief, die Rücklichter leuchteten rot im Regen. Als sie den Blick wieder auf Grace richtete, zuckte sie seltsam lässig mit den Schultern. «Tja», sagte sie. «Mein Exmann hatte viele Freundinnen.»
Grace hatte keine Ahnung, was das bedeuten sollte, und sie wollte es auch gar nicht wissen. «Verstehe», sagte sie leise.
«Oh, tatsächlich?» Marcie stand nach wie vor leicht gebückt vor ihr, auf Augenhöhe mit Grace, eine Position, die nicht sonderlich bequem sein konnte. Ihre Wangen waren gerötet. Regen tropfte in den Wagen. «Das ist gut», fuhr sie fort. «Das freut mich für Sie.»
Nun errötete Grace selbst. Über all ihre Trauer, ihr Bedürfnis, mehr über Tugs Wurzeln zu erfahren, hatte sie ganz vergessen, dass jene Wurzeln nicht zuletzt in den Leben anderer Menschen zu finden waren. «Es tut mir leid», sagte sie. «Ich wollte hier nicht stören.»
«Okay», gab Marcie zurück.
Grace fragte sich, was sie hier machte, wohin sie und Tugs Mutter unterwegs waren. Tug hatte ihr einst erzählt, dass Marcie zu ihren Eltern in Hudson gezogen war, nachdem sie sich getrennt hatten.
«Ich fahre dann mal wieder», sagte Grace.
«Jetzt schon?», fragte Marcie. «Wir haben uns doch gerade erst kennengelernt.»
«Was?», sagte Grace.
«Sind Sie aus Montreal hierhergekommen?»
«Ja.»
«Warum?»
Grace wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Die Situation war ihr peinlich, und sie bereute, überhaupt hierhergefahren zu sein. Unverhohlene Wut schwang in der Stimme der anderen Frau mit, und in ihren Augen lag ein fiebriger Glanz. Die ganze Zeit starrte sie auf einen Punkt links von Grace. Es war, als wüsste sie, dass Tug einst auf diesem Beifahrersitz gesessen hatte, die Schulter gegen die Tür gelehnt.
«Ich glaube, ich fahre jetzt lieber», sagte Grace und wartete darauf, dass Marcie einen Schritt zurücktrat, damit sie das Fenster schließen konnte. Doch stattdessen beugte sich Marcie noch näher zu ihr; sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, aber vielleicht waren es auch nur Mascaraspuren. Im selben Augenblick verloschen die Rücklichter des Honda, und Tugs Mutter stieg aus.
Marcie richtete sich auf. «Joy», sagte sie mit einem strahlenden, falschen Lächeln. «Diese Frau ist eine Freundin von Tug.»
Grace war wie versteinert. Sie hatte sich nicht ernsthaft überlegt, was sie Tugs
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