In einer anderen Haut
Skiläufer.»
«Ja», sagte Grace. «Wir waren noch öfter auf der Loipe. Diesen Winter.»
«Sie waren bei ihm», erwiderte Joy zögernd. «Diesen Winter.
«Ja», wiederholte Grace.
Tugs Mutter und Marcie wechselten einen langen Blick.
Grace wusste nicht mehr, was sie sagen sollte; sie fühlte sich völlig verloren, bereute zutiefst, dass sie überhaupt hergekommen war. Sie verfluchte Tug dafür, dass er ihr nicht mehr über seine Familie erzählt hatte, stets den Geheimniskrämer gespielt hatte, und am allermeisten verfluchte sie ihn dafür, dass er nicht mehr da war. Doch die Begegnung mit seinen Eltern, diesem verrückten Geflecht von Eigenheiten, aus denen er entstanden war, gab ihr einen Moment lang das Gefühl, als stünde er selbst im Raum, und plötzlich war sie doch froh, den Weg auf sich genommen zu haben.
«Tja, jetzt wissen wir’s», sagte Marcie.
Ihre Worte waren nicht an Grace gerichtet, aber sie antwortete trotzdem. «Was wissen Sie?»
Marcie schien sie mit ihrem Blick in Stücke schneiden zu wollen. «Mit wem mein Mann vor seinem Tod zusammen war.»
Ein langes Schweigen folgte. Grace verharrte reglos auf dem Sofa, als könne sie so den Tumult ihrer Gefühle kontrollieren. Dennoch sah sie unwillkürlich zur Tür, während sie fieberhaft überlegte, wie sie hier wieder herauskommen sollte. Was hatte sie sich erwartet, worauf war sie aus gewesen? Jedenfalls bestimmt nicht auf eine Auseinandersetzung mit seiner Familie. Tugs Gegenwart in ihrem Leben war so flüchtig gewesen, dass sie vielleicht einfach nur etwas über seine Kindheit in Erfahrung bringen wollte. Eine winzige Erinnerung, war das zu viel verlangt? Sie kam sich vor wie eine Bettlerin, die ein Almosen begehrte.
Im selben Augenblick drang ein leises Trappeln an ihre Ohren, und plötzlich erschien der Dackel, der damals in Tugs Wohnung gewesen war, als sie ihn von der Klinik nach Hause gebracht hatte. Schläfrig bewegte er die Lider, ehe er direkt auf Grace zulief und ihr in den Schoß sprang, genau wie damals in Tugs Wohnung, und plötzlich konnte Grace nicht mehr an sich halten. Unaufhaltsamrannen die Tränen über ihre Wangen, als sie leise zu weinen begann.
«Ach, du liebe Güte», sagte Joy.
«Sparky, hierher!», zischte Marcie.
Zögernd sprang der Dackel von Grace’ Schoß und trottete zu seinem Frauchen.
Lebte Marcie hier bei seinen Eltern? Aber Grace wollte sich nicht mit Fragen aufdrängen, dazu hatte sie kein Recht, dachte sie. Mit einem innerlichen Schulterzucken verabschiedete sie sich von allem, inklusive dem letzten bisschen Würde, das ihr geblieben war. «Es tut mir leid, dass ich hergekommen bin», sagte sie. «Ich wollte Sie nicht belästigen. Ich wollte nur …»
Sie spürte Marcies Blick, der sie förmlich zu versengen schien.
«Ich kenne einfach niemanden, der ihn kannte», fügte sie hinzu.
Als sie aufblickte, sah sie, dass Tugs Mutter ebenfalls weinte. Unendlich viel Schmerz schwang im Raum, ohne dass ihn jemand in Worte fassen konnte.
«Ach, und das wollten Sie uns mal einfach unter die Nase reiben, ja?» Marcies Stimme klang heiser vor Wut.
«Marcie», mahnte Tugs Vater.
«Komm schon, Will. Sie taucht hier auf und erwartet Mitleid von uns? Seine
Freundin?
Was soll ich denn deiner Meinung nach tun? Sie in die Arme nehmen?»
«Lasst uns doch vernünftig bleiben.» Joy lächelte schwach.
Grace konnte sich immer noch nicht vorstellen, dass er hier aufgewachsen war, jener Mann mit den traurigen Augen, den sie gekannt hatte. Sein Zynismus, sein Fernweh, seine sachliche Art, nichts von alledem passte in dieses Haus mit seinen Zierdeckchen und Plüschkissen. Aber es gab eben immer tausend Erklärungen, warum aus jemandem dieser oder jener Mensch geworden war, wenn man sich die Elternhäuser betrachtete.
«Als du zu uns gekommen bist, Marcie», sagte Tugs Vater, «haben wir deine Beweggründe auch nicht infrage gestellt.»
Marcies Augen flackerten. «Willst du mich etwa mit ihr vergleichen?»
«Ich mache uns noch einen Tee», sagte Joy.
Grace schüttelte den Kopf und stand auf. Nun, da sie ein paar Kekse im Magen hatte, fühlte sie sich besser und in der Lage, die Situation wieder in den Griff zu bekommen. «Ich gehe jetzt», sagte sie, ehe sie sich zu Marcie wandte und sich zwang, sie anzusehen. «Es tut mir leid», sagte sie.
Sie ging zur Haustür und öffnete sie, doch auf einmal stand Joy neben ihr, legte ihre kleine, beinahe federleichte Hand auf ihren Arm. «Bitte», sagte sie. «Erzählen Sie
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