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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alix Ohlin
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Eltern sagen wollte, doch welche Fantasie sie auch immer gehegt haben mochte, so hatte sie es sich nicht vorgestellt. Ein jähes Gefühl der Übelkeit wusch über sie hinweg, als hätte sie sich von einer Sekunde auf die andere eine schwere Grippe eingefangen. Sie spannte die Bauchmuskeln an, betete, dass sie irgendetwas von diesem Moment erlösen möge. Als sich die alte Frau zu ihr beugte, wandte sie sich ab und übergab sich auf den Beifahrersitz.
    «Ach, du liebe Güte», sagte Tugs Mutter. «Kommen Sie doch herein.»

    Eine Viertelstunde später saß sie auf dem Sofa in Tugs Elternhaus, die Hände um eine Tasse Tee gelegt, während drei Fremde in Posen gespielter Ruhe um sie herumsaßen. Draußen schüttete es wie ausKannen; der Regen klatschte gegen die Fenster, und Grace fühlte sich, als hätte sie Fieber. Niemand sprach ein Wort. Tugs Vater, ein großer, schlanker Mann mit kurz geschnittenem weißen Haar, blickte immer wieder sehnsüchtig in den angrenzenden Raum, wo im Fernsehen ein Eishockeyspiel lief; leise drang die aufbrandende und wieder abschwellende Geräuschkulisse der Zuschauer zu ihnen herüber.
    Grace sah sich um. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Tug je auf diesem Sofa gesessen hatte oder als Kind durch den Raum gelaufen war. Die Sitzmöbel waren mit geblümtem Stoff in dunklem Rosa bezogen, und auf den Beistelltischchen standen weiße Vasen mit Plastikblumen. Es roch durchdringend nach Desinfektionsmittel.
    Eines Nachts hatte sie Tug von ihrer Trennung erzählt; davon, wie Mitch seine Habseligkeiten so schnell und vollständig aus ihrer gemeinsamen Wohnung geräumt hatte, dass sie sich regelrecht beraubt vorgekommen war. Als sie gesehen hatte, in welcher Windeseile er seine Sachen packte, hatte sie ein paar Kleinigkeiten aus den Kisten geklaut – ein Foto, das ihn als kleinen Jungen zeigte, eine Teekanne, die seiner Mutter gehört hatte –, um sich des Gefühls zu erwehren, dass alles, was sie sich zusammen aufgebaut hatten, sich von einer Sekunde auf die andere in nichts auflöste. Und als er seine Sachen eingelagert hatte und in die Arktis gegangen war, hatte sie sich doppelt beraubt gefühlt, geschieden und sitzen gelassen. Tug hatte nur mit den Schultern gezuckt. «Wenn man sich irgendwo fehl am Platz fühlt, ist eine Luftveränderung nicht die schlechteste Idee», hatte er gesagt.
    Nun sah seine Mutter sie an. «Wollen Sie wirklich kein Aspirin?»
    «Nein danke», sagte Grace.
    Sie überboten sich gegenseitig im Austausch von Höflichkeiten. Zumindest sie und Tugs Eltern. Marcie saß mit übereinandergeschlagenen Beinen in einem Lehnsessel und blickte sie finster an.
    Grace hatte sich bereits mehrmals entschuldigt; ihr schwirrteder Kopf, und wiederum wünschte sie, zu Hause geblieben zu sein. «Haben Sie vielleicht ein paar Salzkräcker?»
    «Ich schau mal nach, meine Liebe.» Tugs Mutter rannte förmlich in die Küche, hocherfreut, sich nützlich machen zu können, und kurz darauf hörte Grace sie in der Küche rumoren. Joy war eine kleine, rundliche Frau mit freundlichen grünen Augen. Allerdings hatte Tug seinem Vater ähnlicher gesehen – die gleichen Haare und die gleichen hängenden Schultern. Plötzlich empfand sie inmitten ihrer Übelkeit noch einen anderen physischen Schmerz, der sich in ihrer Brust ausbreitete. Ihr fehlte sein Körper, die Wärme seines Arms, der im Schlaf über ihr gelegen hatte, der Geruch seines Haars, seiner Haut.
    Joy kam mit einem Teller Peek-Freans-Kekse zurück, die sie dekorativ arrangiert hatte. «Gehen die auch?», fragte sie. «Wir haben leider keine Kräcker.»
    «Wunderbar», sagte Grace. «Es tut mir wirklich leid, dass ich …»
    «Jetzt machen Sie aber mal ’nen Punkt», sagte Tugs Vater sanft. Trotz seiner Freundlichkeit blieb er merklich distanziert, so wie Tug es auch meist gewesen war. Er wartete, bis sie ihren Keks heruntergewürgt hatte. «So», sagte er schließlich. «Woher kannten Sie ihn eigentlich?»
    Grace senkte den Kopf. Natürlich würde sie ihnen alles erzählen; das war der Preis dafür, dass sie hergekommen war. «Wir haben uns beim Langlauf auf dem Mount Royal kennengelernt. Und irgendwann sind wir … Freunde geworden.»
    Marcie seufzte, obwohl es mehr wie ein lang gezogener, trauriger Pfiff klang.
    Tugs Mutter schenkte ihr keine Beachtung. Betont aufrecht saß sie in ihrem Sessel, die Hände im Schoß gefaltet; in ihrer Haltung lag ebenso viel Würde wie tiefer Schmerz. «Mein Sohn war ein begeisterter

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