In einer anderen Haut
Hilary einen Scheck über die gesamte Summe aus, die sie für ihre Rolle in der Serie bekommen hatte, mehr Geld, als sie in ihrem gesamten Leben verdient, und mehr Geld, als Hilary mit Sicherheit je auf einem Haufen gesehen hatte. Sie steckte den Scheck in einen Umschlag, schrieb die Adresse in Utica darauf und gab den Brief unten an der Rezeption ab, mit der Bitte, ihn zu frankieren und in die Post zu stecken.
Als sie das Hotel verließ, hatte sie lediglich eine Tasche bei sich, nicht größer als diejenige, mit der sie vor all den Jahren nach New York gekommen war. Befreit von allen Ketten, fühlte sie sich erleichtert, ganz mit sich im Reinen. All die Jahre war sie von einem Leben ins nächste geflohen, und auch jetzt würde sie nicht damit aufhören. Menschen wie Hilary und Alan rissen nur vorübergehend aus. Am Ende kehrten sie immer nach Hause zurück, an den Ort, an den sie gehörten. Anderen Menschen jedoch war es bestimmt, weiter von Ort zu Ort zu ziehen, immer und immer wieder.
11
Montreal, 1996
Grace überlegte tagelang, ob sie den Trip wirklich unternehmen sollte. Was erwartete sie? Endlos grübelte sie über ihr Vorhaben nach, malte sich die besten und die schlimmsten Szenarien aus. Am Ende beschloss sie zu fahren, weil sie so wenigstens nicht länger darüber nachdenken, sondern sich den Tatsachen stellen würde.
Tug hatte nie viel über seine Heimatstadt oder sein Leben dort erzählt. Wenn Grace von ihrer Kindheit sprach – ein Thema, das sich gelegentlich wie von selbst ergab –, nickte er zwar und hörte zu, äußerte sich aber selbst nur sehr selten über seine Jugend. Im Nachhinein begriff sie, dass es nicht zuletzt seine Schweigsamkeit gewesen war, die sie so sehr angezogen hatte; er ließ sie am ausgestreckten Arm verhungern, während sie dauernd danach gierte, dass er mehr von sich preisgeben würde.
Aber nur weil ihr das nun bewusst war, änderte es nichts daran, dass sie nach wie vor mehr über ihn erfahren wollte.
Bei seiner Beerdigung hatte sie sich im Hintergrund gehalten und seine Eltern beobachtet – ein ordentlich gekleidetes, still wirkendes Paar, seine Mutter mit Brille, sein Vater ein leicht gebeugter Mann mit hohen Schläfen. Sie wussten nicht, wer sie war, ahnten nicht einmal, welche Rolle sie in Tugs Leben gespielt hatte, und dementsprechend hatte sie sich ihnen auch nicht vorgestellt. Vielleicht war es auch diesmal nicht der richtige Zeitpunkt, aber sie hatte einfach das Bedürfnis, mit ihnen zu reden.
Die Fahrt nach Brantford führte sie durch ländliche Gegenden mit silbernen Getreidesilos, roten Scheunen und Feldern, auf denen Krähen hockten. Es war ein grauer, regnerischer Tag. Grace spürte, wie sich ihr Herz beim Anblick der tristen Schönheit der Umgebung zusammenzog. Sie überquerte die Grenze von Quebec nach Ontario, während Farmen wie aus dem Bilderbuch und Obstbäume im Regen an ihr vorbeihuschten. Dinge, die Tug nie wieder sehen würde.
Als ihr schlecht wurde, hielt sie an einer Tankstelle und übergab sich auf der Toilette; es war, als wollte ein Teil ihres Inneren aus ihr entfliehen. Dann setzte sie sich wieder hinters Steuer und starrte in das rhythmische Hin und Her der Scheibenwischer, das sie als seltsam tröstlich empfand. Es war ein Samstag. Sie hatte keinerlei andere Verpflichtungen.
Tugs Eltern standen im Telefonbuch. Sie hielt vor einem roten Backsteinhaus mit dunklen Fensterläden, das genauso gepflegt wirkte wie die Farmen, an denen sie vorbeigekommen war. Sein Vater war ein pensionierter Chemiker, seine Mutter stets Hausfrau gewesen. Auch während der Jahre, die Tug im Ausland verbracht hatte, waren sie in Brantford geblieben und nur selten verreist. «Sie wollten nichts von der Welt sehen», hatte Tug einmal gesagt, und sein missbilligender Tonfall war nicht zu überhören gewesen. Nun, da sie angekommen war, wäre sie im ersten Moment am liebsten direkt nach Montreal zurückgefahren. Vielleicht hatte sie einfach nur das Haus sehen wollen, in dem Tug seine Kindheit verbracht hatte, sich davon überzeugen, dass es noch existierte, eine letzte Erinnerung an ihren Liebsten in dieser Welt.
Eine Frau in einem gelben Regenmantel ging mit ihrem Hund anGrace’ Wagen vorbei und warf mit gerunzelter Stirn einen Blick durch die Scheibe. Es war nicht die Art von Viertel, in dem man einfach in seinem Auto sitzen konnte, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Hier kannten sich alle, wussten genau, wer welchen Wagen fuhr. Nach wie vor saß sie reglos da.
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