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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alix Ohlin
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mir, wie es war … am Ende.»

    Es war offensichtlich, dass sie alle bestimmte Dinge in Erfahrung bringen wollten, dass es für sie alle Lücken gab, die es zu füllen galt. Obwohl natürlich niemand die größte Lücke von allen zu schließen vermochte – jene Lücke, die Tug in ihrer aller Leben hinterlassen hatte. Und so schmiedeten sie eine zögerliche Allianz in der Annahme, einander helfen zu können. Joy kochte noch eine Kanne Tee, während Grace daran denken musste, wie viel Trost in ganz alltäglichen Ritualen lag, darin, sich gemeinsam an einen Tisch zu setzen, im leisen Klirren von Silberlöffeln auf Porzellan. Dann senkte sich eine tiefe Stille über den Raum, und alle holten tief Luft.
    Alle außer Marcie, die ihre Schwiegereltern ansah, als hätten sie sie verraten, und zusammen mit dem Hund das Zimmer verließ.
    Tugs Vater holte eine Flasche Whiskey und gab einen Schuss in seinen Tee. Seine Frau enthielt sich jeglichen Kommentars. Er schob Grace die Flasche hin, doch sie lehnte dankend ab. Sie trug einGeheimnis in sich, das erst wenige Wochen alt war. Sollte sie ihnen davon erzählen? Sie hob die hauchzarte Teetasse an ihre Lippen und trank.

    Zunächst bestritt Joy einen Großteil ihrer Unterhaltung. Es war, als hätte sich ein Knoten in ihr gelöst – ob es am Tee lag, an Grace’ Gegenwart oder Marcies Abwesenheit, ließ sich schwer sagen. Als sie zu dritt am Esszimmertisch saßen, redete sie fast zehn Minuten lang; es brach gleichsam aus ihr heraus, eine Flut von Erinnerungen, in denen ihr Sohn für sie weiterlebte.
    «Johnny hat immer von fremden Ländern geträumt», sagte sie. «Schon als Kind.»
    Einen Moment lang war Grace leicht irritiert, da sie ihn immer nur mit seinem Spitznamen angeredet hatte, der so gut zu ihm zu passen schien. Aber natürlich hatte er einen ganz normalen Vornamen gehabt, war einst ein kleiner Junge gewesen, der in ebendiesem Haus seine Kindheit und Jugend verbracht hatte.
    «Er war völlig vernarrt in Landkarten. Er liebte Bücher über Piraten, Astronauten und Indien. Er saugte Wissen in sich auf wie ein Schwamm. Und wenn er mir dann in der Küche von all den Orten erzählte, von denen er gelesen hatte, war es, als wäre er selbst dort gewesen.»
    Unwillkürlich streckte Grace die Finger aus und berührte ihre Hand. Doch Joy wich ihrem Blick aus und reagierte nicht; anscheinend wollte sie nicht angefasst werden. Errötend zog Grace ihre Hand zurück und senkte den Blick. Es war, als hätten sie sich zum Gebet versammelt, als würde jeden Augenblick der Tischsegen gesprochen.
    «Seine Schwester war ganz anders, eine kleine Hausfrau. Sie hatimmer mit ihrer Kinderküche gespielt, wollte lieber zu Hause bleiben, nicht mal zur Schule gehen. Am liebsten hat sie mir dabei geholfen, das Abendessen zuzubereiten und den Tisch zu decken. Aber Johnny hat sich auch oft nützlich gemacht. Ich hatte wirklich Glück mit meinen Kindern.» Einen Moment lang drohte ihre Stimme zu brechen, doch dann schluckte sie und fing sich wieder. «Marcie hat es nicht leicht gehabt», sagte sie.
    Grace sah nicht auf.
    «Als sie das Baby verloren haben, war sie am Boden zerstört», fuhr Joy fort. «Ihre Eltern sind sehr nette Leute, aber sie wollten, dass sie wieder nach vorn blickt und sich um ihre Zukunft kümmert. Deshalb ist sie vorübergehend bei uns untergekrochen, bis sie wieder neuen Mut gefasst hat. Der Verlust hat uns alle näher zusammenrücken lassen.»
    Grace wäre nicht im Traum auf die Idee gekommen, bei ihrer Schwiegermutter einzuziehen; andererseits hatte sie nie so etwas durchmachen müssen. Einen Moment lang erinnerte sie sich daran, wie sie seinerzeit mit Mitchs Mutter Karten gespielt und Tee getrunken hatte, ein Gedanke, der sie lächeln und zugleich das Gesicht verziehen ließ. Dann aber musste sie wieder an Joys Worte denken:
Als sie das Baby verloren haben
. Tug hatte ihr nie etwas davon erzählt.
    «Ich weiß, mein Sohn war nicht perfekt», sagte Joy in einem Ton, als wollte sie die Welt vollends aus dem Gleichgewicht bringen. «Er hat Marcie wohl mehr als einmal betrogen. Aber er hat auch so vielen Menschen geholfen. Er war ein durch und durch guter Mensch, ich weiß es einfach.»
    Grace verschränkte die Finger, während sie an das fremde Wesen dachte, das in ihr war.
    Joy sprach weiter; die Worte kamen langsam und gleichmäßig über ihre Lippen, tropften wie eine Infusion in Grace’ Venen, rhythmisch und betäubend. Sie erzählte, wie Tug einige Wochen vor seinem Tod

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