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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alix Ohlin
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zu Besuch gekommen war und sie alle zusammen zuAbend gegessen hatten; auch Marcie war dabei gewesen. Sie habe gespürt, dass er nicht glücklich gewesen sei – er hatte einfach zu viel gesehen, völlig überarbeitet gewirkt –, aber er habe davon gesprochen, beruflich noch einmal neu anzufangen und vielleicht Jura zu studieren.
    Er war hier, hier in diesem Raum, dachte Grace. Vielleicht hatte er an dem Platz gesessen, wo sie jetzt saß. Ein Schauder überlief sie; sie griff nach der Whiskeyflasche und gab ebenfalls einen Schuss in ihren Tee, während Tugs Vater ihr kaum merklich zunickte. Unter anderen Umständen wären sie viel zwangloser miteinander umgegangen, dachte sie. Aber vielleicht fühlte sie sich auch nur deshalb so wohl in seiner Gegenwart, weil sie seine Schweigsamkeit an Tug erinnerte.
    Der Whiskey wärmte sie, und allmählich beruhigte sich auch ihr Magen wieder.
    Joys Augen waren feucht; gedankenverloren sah sie Grace an. «Bitte erzählen Sie mir von ihm.»
    Grace überlegte. «Er war unglücklich», sagte sie schließlich. «Er ist einfach nicht mit den Dingen fertiggeworden, die er erlebt hat.»
    Tugs Mutter nickte, und Grace konnte förmlich sehen, wie sie die Schuld ebenjenen Dingen und den dazugehörigen Orten zuschob, die Schuld gleichsam in Schränkchen und Schubladen verstaute. Doch während sie in Joys Gesicht sah, beschlichen Grace bereits leise Zweifel an dem, was sie gerade gesagt hatte. Sie wusste nicht, ob die Ereignisse in Ruanda tatsächlich eine Rolle gespielt hatten. Die Seelenqualen, die zu seinem Tod geführt hatten, waren womöglich immer schon ein Teil seiner selbst gewesen; vielleicht hatte es ihn ihretwegen überhaupt erst ins Ausland gezogen; vielleicht waren sie es gewesen, die seine Ruhelosigkeit, seine Wutanfälle, seine Fluchtbewegungen erst ausgelöst hatten. Es war, als hätte er sein ganzes Leben in einer Zwickmühle gesteckt.
    «Wollte er …»
    Tugs Eltern warteten darauf, dass sie fortfuhr; sein Vater stützte die Ellbogen auf die weiße Tischdecke. «Wollte er … hierher zurückkehren?»
Zu Marcie
, wollte sie eigentlich sagen, war sich aber nicht sicher, ob sie verstanden hatten.
    Sie blickten sie an, so alt und grau, runzelig und gebeugt, als hätten erst die Ereignisse der letzten Wochen den wahren Tribut von ihnen gefordert. Tugs Vater zuckte mit den Schultern. «Wir wissen auch nicht mehr als Sie.»
    Es war ein schrecklicher Gedanke. Wie wenig sie alle von ihm wussten.
    Plötzlich wurde ihr klar, dass sie wegen des Babys hierhergekommen war; um sich darüber klar zu werden, welche Entscheidung sie treffen sollte. Nun aber verstand sie, dass Tugs Eltern ebenso wenig Antworten kannten wie sie, nur genauso viele Fragen hatten.
    So viele Patienten erwarteten von ihr – oder irgendwelchen anderen Menschen –, dass sie die wichtigen Entscheidungen für sie traf, nicht zuletzt, um sich von anderen hinterher nichts vorwerfen lassen zu können. Sie sagte ihnen immer, dass sie ihr Leben selbst leben mussten, dass sie selbst dafür verantwortlich waren, doch niemand schien sich mit diesem Gedanken anfreunden zu können. Was war schlecht daran, selbst Verantwortung für das zu übernehmen, was man tat oder sagte, für all die Dinge, die nicht nur das eigene Leben, sondern auch das anderer Menschen betrafen? Mit einem Mal wurde ihr bewusst, wie schwer es war, ihren eigenen Rat zu beherzigen.
    Und dann war da noch die Sache mit Marcie. Grace empfand tiefes Mitgefühl für sie, wünschte aber gleichzeitig, sie wäre nie hierhergekommen. Und nun damit herauszurücken, dass sie ein Kind erwartete – das war unmöglich, selbst wenn sie beschloss, das Baby zu behalten. Eine derartige Eröffnung hätte nur weitere Wunden aufgerissen und endlose Komplikationen nach sich gezogen. Es war schrecklich für sie, ihr Geheimnis für sich behalten zu müssen, aber noch schlimmer wäre es gewesen, sich Tugs Eltern zu offenbaren.Plötzlich kam ihr in den Sinn, was Tug einst über das Leben in den «Komfortländern» gesagt hatte. Dieses Haus war ein Komfortland, dachte sie, oder zumindest wollte es eins sein, mit sorgsam geschützten Grenzen und wohlbehüteten Bürgern. Es war besser, wenn sie die Ordnung hier nicht länger durcheinanderbrachte.
    «Es tut mir leid», sagte sie, und es kam ihr vor, als würde sie sich mittlerweile zum hundertsten Mal entschuldigen. «Ich wollte nicht unangemeldet bei Ihnen hereinplatzen.» Ihre Stimme wurde leiser, als hätte sie ihre eigene

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