In einer anderen Haut
diesem Jahr. Dir und Deiner Familie alles Liebe, Grace und Sarah
. Auf der Vorderseite der Karte befand sich ein Foto von ihnen; beide, die eine blond, die andere dunkel, trugen rote Pullover und lächelten in die Kamera. Die Falten unter Grace’ Augen waren nicht zu übersehen, und sie wirkte ein wenig müde, aber nicht mehr so erschöpft. Sie hatte die Arme um ihre Tochter gelegt, und in ihrem Blick spiegelten sich Optimismus und Entschlossenheit.
Dir und Deiner Familie alles Liebe
, las er noch einmal.
Er rief sie kurzerhand an. Sie klang völlig außer Atem, als sie abhob.
«Oh, Mitch», sagte sie. «Die Weihnachtszeit ist jedes Mal wieder der nackte Wahnsinn, oder?»
Es war der Tag vor Heiligabend. Die nächste Woche hatte er frei; Weihnachten würde er mit Malcolm und seiner Familie verbringen und einen Tag später wieder nach Hause fahren. Für ihn war es keine besonders hektische Jahreszeit, aber natürlich war ihm bewusst, dass andere jede Menge um die Ohren hatten.
«Danke für die Karte», sagte er. «Und wie läuft es sonst bei euch?»
«Jede Menge Trubel, aber es geht schon. Morgen fliegen wir nach Vancouver. Ehrlich, ich habe keine Ahnung, wie ich auf die Schnapsidee gekommen bin, Weihnachten dort zu verbringen.»
«Das wird bestimmt toll», sagte er. «Und besseres Wetter habt ihr da sowieso.»
«Das glaube ich auch. Jetzt muss ich aber noch ungefähr zehntausend Dinge erledigen – du lieber Himmel, was für ein Chaos.»
Mitch überlegte, aber höchstens eine Sekunde. «Kann ich dir vielleicht irgendwie helfen?», sagte er.
Er fürchtete, seine Frage könne eine verlegene Pause auslösen, doch Grace sprang sofort auf sein Angebot an.
«Das wäre
großartig»
, erwiderte sie. «Könntest du uns vielleicht in die Stadt fahren? In einer Stunde oder so? Mein Auto springt nämlich nicht an … na ja, kaum ist Weihnachten, und schon kommt wieder mal eins zum anderen.»
«Bin quasi schon da», sagte Mitch.
Er zog seinen Mantel an und stellte überrascht fest, dass er leise vor sich hinsummte, während er Brieftasche und Schlüssel einsteckte. Er hätte sogar noch Zeit gehabt, ein bisschen aufzuräumen, aber in seiner Wohnung war ohnehin alles tipptopp. Hier gab es nicht mehr zu tun.
Er brachte sie in die Stadt, fuhr extra über die Saint Catherine Street, damit Sarah die Schaufenster von Ogilvy sehen konnte, und stellte den Wagen auf einem Parkplatz am De Maisonneuve Boulevard ab. Die kalte Winterluft kniff ihnen in Wangen und Nasen. Er folgte Grace und Sarah in die Promenades Cathédrale und fuhr mit ihnen die Rolltreppen hinunter in das unterirdische Einkaufszentrum – schier endlose Gänge mit neonbeleuchteten Geschäften, vor und in denen sich Menschen drängten. Die Luft war zum Schneiden, und aus allen Läden drangen Weihnachtslieder.
Christmas is coming
, erklang der matte Gesang der Payolas,
it’s been a long year
. Horden von Teenagern hatten sich rund um die einzelnen Stände zusammengerottet. Als ein Junge Sarah um ein Haar umrempelte, brüllte Mitch ihn derart an, dass er sich sofort schleunigst aus dem Staub machte. «Komm, lass gut sein», sagte Grace. «Er hat doch gar nichts getan.»
Sarah bahnte sich den Weg durch die Menge, deutete auf die Dekorationen, die farbenprächtigen Christbäume, einen Roboter-Schneemann, der die Arme hob und würdig nickte, und all die Kinder, die sich versammelt hatten, um den Weihnachtsmann zu sehen. Als sie schließlich ein wenig unleidig wurde, ging Mitch mit ihr in ein Café und kaufte ihr ein Eis, während Grace loszog, um noch ein paar Geschenke zu besorgen.
«Na, was meinst du?», fragte sie Mitch, als sie mit einem Pullover für ihren Onkel zurückkam. Er vermutete, dass der Mann lieber gar keinen Pullover geschenkt bekommen würde, sagte aber nichts. Er spürte, dass er Kopfschmerzen bekam, und fühlte sich Sarahs Erschöpfung – das Mädchen hing halb auf ihrem Stuhl und zog mit dem Plastiklöffel Linien in die Schokoladensauce – um einiges näher als Grace’ hektischer Betriebsamkeit.
«Ich wollte dir noch was sagen.» Sie verstaute den Pullover wieder in der Tüte, setzte sich ihm gegenüber und nahm Sarah in den Arm, die sich an sie lehnte. «Es tut mir leid, wie wir letztes Mal auseinandergegangen sind.»
«Schon okay, Grace. Du hattest völlig recht. Es war tatsächlich komisch.»
Sie lächelte ihn an. Ihr Mantel stand offen; darunter trug sie Jeans und ein altes McGill-Sweatshirt. Sie bewegte sich immer noch ein wenig
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