In einer anderen Haut
sie ein Glas Wasser brauchten, konnten sie es sich selbst holen. Und falls das Mädchen etwas stehlen wollte, hatte sie wohl Pech gehabt, da Anne nichts von Wert besaß. Es hatte eben auch Vorteile, wenn man aus dem Koffer lebte.
Ein paar Minuten nachdem das Wasser abgedreht worden war,kam das Mädchen aus dem Bad. Sie trug die Jogginghose und hatte mehrere weite T-Shirts übereinandergezogen. Es war unübersehbar, dass sie enorm große, schwere Hängebrüste hatte. Ihr Körper sah aus wie der einer Frau, aber ihr Gesicht war rund, pausbäckig und kindlich. Den Blick auf die Erdnussbutter gerichtet, setzte sie sich an den Küchentisch. Sie machte sich ein Sandwich und dann noch eins. Als sie das zweite halb gegessen hatte, sagte sie: «Milch?»
Anne, die bereits bedauerte, dieses Geschöpf – dieses
Tier –
in ihre Wohnung gelassen zu haben, schüttelte den Kopf.
Während das Mädchen weiteraß, ging Anne ins Bad und stopfte die miefenden Klamotten in einen Plastikmüllsack. Es versetzte ihr einen Stich, als sie sah, dass ihr Shampoo, die Haarspülung, das Gesichtspeeling und die Körperlotion offen und verschmiert herumstanden. Es waren teure Pflegemittel, eine Investition in ihre Schönheit.
«Ich bringe deine Sachen nach unten in die Waschküche», sagte sie. Als sie zurückkam, schlief das Mädchen tief und fest in ihrem Bett.
Sie schlief schlecht auf ihrer unbequemen Couch. Gute Taten waren noch nie ihre Stärke gewesen. Sie war nicht egoistisch – nur unabhängig. Sie blieb gern in ihren eigenen Grenzen. Trotzdem schleppte sie sich aus irgendeinem Grund am Morgen zum nächsten Deli und kaufte Orangensaft und Donuts. Das Mädchen sah aus, als stünde es auf Donuts. Wieder zu Hause, setzte sie sich auf das Sofa und trank schwarzen Kaffee, bis das Mädchen gegen zehn aufwachte und das Wohnzimmer betrat, offenbar ziemlich überrascht von Annes Gegenwart.
«Müssen Sie nicht zur Arbeit?» Sie hatte einen leichten Akzent,vielleicht nicht richtig mittelwestlich, aber sie sprach breit und vernuschelte die Konsonanten, als käme sie vom Land.
«Heute nicht.» Anne sah zu, wie sich das Mädchen schwerfällig auf den Hocker sinken ließ, wobei ihr auffiel, dass ihre vom Schlaf zerknitterten Züge völlig teilnahmslos blieben, wie gefroren in einem öden Traum. Erst der Anblick der Donuts ließ etwas über ihr Gesicht huschen, das entfernt an einen Gefühlsausdruck erinnerte. Sie zog die Pappschachtel zu sich heran; an ihrer Nase blieb Puderzucker kleben, als sie in den ersten Donut biss.
«Wie heißt du?»
Ohne ein Wort nahm sich das Mädchen einen zweiten Donut.
Anne stand auf, riss ihr den Donut aus der Hand und warf ihn zusammen mit dem Rest der Schachtel in den Müll, ehe sie die Arme vor der Brust verschränkte und die aufgebrachte Mutter spielte.
Das Mädchen kaute, schluckte.
Raus hier, dachte Anne.
«Hilary.»
Hätte das Mädchen in diesem Moment nichts weiter gesagt, hätte Anne sie am Ohr von ihrem Hocker gezogen und zur Tür expediert. Vielleicht hätte sie auch die Polizei gerufen, auf jeden Fall umgehend etwas unternommen, um sie aus ihrer Wohnung und ihrem Leben zu entfernen.
Doch dann fuhr sie fort: «Sind Sie eine Schauspielerin oder ein Model oder so was? Sie sehen echt super aus.»
Auch wenn ihr auf der Stelle klar war, dass sich die Kleine bloß lieb Kind bei ihr machen wollte, fühlte Anne sich geschmeichelt. «Ich bin am Theater», sagte sie.
Das Mädchen zog eine Grimasse. «Da komm ich nie hin», sagte sie. «Dazu bin ich viel zu fett und hässlich.»
«Bist du nicht», widersprach Anne mechanisch. Diese Art von Unterhaltung führte sie fast jeden Tag mit anderen Schauspielerinnen.
Ich bin so fett
führte unausweichlich zu
Quatsch, du bist doch spindeldürr
und
Ich bin so hässlich
automatisch zu
Ach was, du bisthinreißend
. Es war die ewig gleiche Melodie, rhythmisch und ritualisiert, wie Vogelgezwitscher.
Das Mädchen ging nicht weiter auf ihre Heuchelei ein. «Spielen Sie denn gerade in einem Stück?»
«Wir proben noch. Ich spiele eine Bäuerin während der Großen Hungersnot in Irland. Hast du schon mal davon gehört? Jedenfalls muss ich mich prostituieren, um meine Familie vor dem Verhungern zu bewahren.»
«Prostituieren?» Hillary stützte sich mit den Ellbogen auf den Küchentresen. Ihre riesigen Brüste lagen wie Brotteig auf der Tresenplatte.
Anne nickte. Tatsächlich wurde die Prostitution mehr angedeutet als gezeigt; sie hatte nur ein paar Zeilen, aber um das
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