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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alix Ohlin
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Tag über allein in ihrer Wohnung gelassen. So etwas konnte nur jemand tun, der nicht ganz klar im Kopf war.
    Aber in ihrer Wohnung war alles ruhig. Hilary hatte sich auf dem Sofa unter einer Decke zusammengerollt und schlief; ihr stämmiger Körper wirkte erstaunlich kompakt. Der Anblick warf Annes Absichten über den Haufen. Eigentlich hatte sie vorgehabt, sie kurzerhandhinauszuwerfen, doch stattdessen zog sie ihre Stiefel aus und stellte leise ihre Tasche ab, als wolle sie sie nicht stören.
    Dann dachte sie: Was zum Teufel mache ich hier eigentlich?
    Sie knipste das Licht an, trat an den Küchentresen und aß das Nudelgericht, das sie sich unterwegs bei Panda Kitchen gekauft hatte. Als Hilary sich bewegte und ihre massige Figur in sitzende Position brachte, fragte sich Anne, ob sie auf Drogen war.
    «Kann ich auch was haben?», fragte Hilary.
    Anne aß nie viel und ließ stets etwas von ihren Portionen übrig. «Kein Problem.»
    Hilary schien ihre Stimmung zu spüren, häufte etwas Lo mein auf ihren Teller und trug ihn zum Sofa. Wie ein Tier beachtete sie die unausgesprochene Rangordnung, hielt intuitiv Distanz.
    Plötzlich erschöpft, stellte Anne ihren Teller in die Spüle und ging ins Schlafzimmer. Das Bett war frisch bezogen. Die Zahnpastakleckse im Waschbecken waren verschwunden, die Wanne war frisch geputzt, und alles roch schwach nach Reinigungsmittel. Sie kroch ins Bett und lauschte nach störenden Geräuschen, wartete darauf, dass Hilary sich auf dem Sofa herumwälzte, schnarchte oder einfach nur zu laut atmete. Von draußen drangen Verkehrslärm, Gehupe, Stimmen an ihre Ohren; von nebenan war kein einziges Geräusch zu hören.
    Auch am nächsten Tag setzte sie das Mädchen nicht vor die Tür, ebenso wenig wie am übernächsten, und allmählich wurden sie zu seltsamen, ungleichen WG-Genossinnen. Die Unterbringung Hilarys in einer Notunterkunft wurde nie wieder angesprochen. Hilary hielt die Wohnung sauber und kochte gelegentlich. Sie reparierte das klemmende Schlafzimmerfenster, kümmerte sich um die Wäsche, wischte sogar das Treppenhaus und wechselte die Glühbirnen auf den Etagenfluren aus. Mrs. Bondarchuk, die nicht mitbekommen hatte, woher Hilary gekommen war, ging davon aus, dass sie Annes Cousine war, und sie sahen keine Notwenigkeit, sie genauer aufzuklären. Die anderen alten Damen im Haus begannensie zu grüßen und verhielten sich auch Anne gegenüber deutlich freundlicher, als wäre sie ihnen zuvor als allein wohnende Frau irgendwie bedrohlich vorgekommen.
    Anne ging zu ihren Proben, zur Arbeit und ihren Verabredungen, ohne Hilary je zu fragen, was sie tagsüber neben der Hausarbeit sonst noch so trieb. Nach einer Weile gab sie Hilary die Zweitschlüssel für die Wohnung und fing an, ihr regelmäßig 20 Dollar für Lebensmittel dazulassen. Nun fand sie Milch, Brot und Früchte vor, wenn sie nach Hause kam. Sie hatte keine Ahnung, was Hilary sonst so aß, fest aber stand, dass das Mädchen noch pummeliger geworden war; sie bekam definitiv zu essen, wo auch immer. Ihre Haut war reiner geworden; ihr Haar, das sie nun regelmäßig wusch, wirkte luftiger, besaß mehr Glanz, und manchmal machte sie sich zwei Zöpfe. Sie sah so blitzsauber und kerngesund aus wie ein Milchmädchen, und der bäuerliche Eindruck verstärkte sich noch, als Anne sich eines Tages bei einem Vorsprechen hinter der Bühne umsah und eine weite Latzhose und ein paar Karohemden mit nach Hause brachte, die Hilary trug, ohne sich zu beklagen oder auch nur zu fragen, woher die Sachen überhaupt stammten.
    Keine von ihnen stellte der anderen Fragen. Anne nahm an, dass Hilary von zu Hause ausgerissen war, und ihrer Erfahrung nach hatten Kids für so etwas meist gute Gründe. Und obwohl Hilary so selbstbewusst in ihre Wohnung marschiert war, schien sie instinktiv zu spüren, dass Anne ihre Privatsphäre heilig war. Wenn Anne von der Arbeit nach Hause kam, verzog sie sich manchmal sofort ins Schlafzimmer, und Hilary störte sie nie. Die wenigen Klamotten, die Hilary nun besaß, befanden sich in einer Plastikkiste neben dem Sofa; die Decke, unter der sie schlief, lag zusammengefaltet obenauf. Zuweilen vergingen ganze Tage, ohne dass sie ein einziges Wort miteinander sprachen.
    Eine Weile verzichtete Anne auf Männerbekanntschaften, eine kleine Auszeit, die sie zunächst als durchaus angenehm empfand, weil sie ihr ein Gefühl von Reinheit und Askese gab. Doch da sieHilary tagsüber vertrauen konnte, beschloss sie bald, dies auch für

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