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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alix Ohlin
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Hilary sich um die Wohnung kümmerte und daraufwartete, dass sie zurückkam. Nun fiel ihr wie Schuppen von den Augen, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, was Hilary tagsüber machte oder wo sie sich herumtrieb, und das brachte sie auf seltsame Weise aus dem Gleichgewicht.
    Als die Wäsche fertig war, ging sie zum Tante-Emma-Laden um die Ecke, um Milch zu kaufen. Sie nahm gerade einen Karton aus dem Kühlregal, als sie eine vertraute Stimme sagen hörte: «Jetzt hätte ich echt Lust auf ein Eis.»
    Hilary stand am anderen Ende des Ladens; die blonden Zöpfe fielen über ihre Schulterblätter. Zwischen ihr und Anne befanden sich zwei Regalreihen und etliche andere Kunden, sodass das Mädchen sie nicht bemerkte. Den Typ, mit dem sie sprach, konnte Anne nicht sehen – ein Stapel Toilettenpapier und ein Verkaufsständer mit Müsli versperrten ihr die Sicht –, aber sie hörte, wie er erwiderte: «Immer willst du Eis. Du bist echt süchtig nach Eis.»
    «Ich bin nicht süchtig.»
    «Aber hallo!»
    «Bin ich nicht. Welche Sorte willst du? Ich will Schoko-Chunk, Cookie Dough oder Cherry Cheesecake.»
    «Drei Sorten, und du sagst, du wärst nicht süchtig?»
    «Ach, halt die Klappe.»
    Hilarys Tonfall klang süß, neckisch und aufgekratzt. Ihre Stimme war die eines Mädchens, das sich leichtfüßig bewegte, gern nackte Haut zeigte und sich schnell verliebte. Sie passte kein bisschen zu der Hilary, die Anne kannte.
    Sie trat einen Schritt näher und spähte durch ein Regal mit Nahrungsmitteln. Der Junge sah noch jünger als Hilary aus und war spargeldünn; sein vernarbter Teint stand in scharfem Kontrast zu seinen vollen, dunklen Lippen. Seine Haare hatte er zu einem Mini-Irokesen gestylt; seine Nase und Augenbrauen waren gepierct. Sein rotes Kapuzenshirt hing schlaff über seine Schultern, und seine Jeans schien ihm jede Sekunde über die Hüften rutschen zu wollen. Er war kaum mehr als Haut und Knochen. Sie hätte ihn zwischenDaumen und Zeigefinger zerquetschen können, dachte Anne. Er machte nicht viel her, aber dasselbe galt auch für Hilary in ihrem sackartigen blauen Jogginganzug. In dieser Hinsicht passten sie zusammen wie Topf und Deckel.
    Schließlich einigten sie sich auf Schokolade, und Anne folgte ihnen, ohne sich weiter um ihren Einkauf zu kümmern, zurück nach Hause. Dann wartete sie fünf Minuten, ehe sie ebenfalls nach oben ging.
    Hilary blickte ungerührt auf, als sie hereinkam. «Das ist Alan», sagte sie.
    «Hey», sagte er.
    Anne setzte sich auf das Sofa und musterte die beiden, ohne ein Wort zu sagen, in der Hoffnung, damit so viel Unbehagen heraufzubeschwören, dass der Junge die Wohnung verlassen würde, aber es sah ganz und gar nicht danach aus. Stattdessen standen sie am Küchentresen, aßen Eiscreme und alberten miteinander herum, als hätten sie Annes Anwesenheit überhaupt nicht bemerkt. Ihre Unterhaltung war wie der schlechteste Bühnendialog, den man sich vorstellen konnte.
    «Du frisst wie ein Schwein.»
    «Tu ich nicht.»
    «Du hast Schokolade am Kinn.»
    «Du doch auch.»
    «Wo?»
    «Na, da.»
    Und so weiter, und so fort. Sie war das Publikum – eine Rolle, die ihr ganz und gar nicht gefiel. Nach einer Weile ging sie ins Schlafzimmer und schloss die Tür hinter sich, gefangen im Netz ihrer Gefühle: Sie war sauer, weil sie genervt war, und das machte sie nur noch wütender. Sie holte ein paarmal tief Luft und zählte bis hundert; dann verließ sie die Wohnung und ging zwei Stunden zum Yoga. Als sie zurückkam, waren die beiden verschwunden; ihre Teller waren abgewaschen und trockneten neben der Spüle.
    Doch obwohl sie nun allein war, fühlte sie sich plötzlich deplatziert in ihren eigenen vier Wänden; die Luft vibrierte förmlich vor fremder sexueller Energie. Was geschah hier eigentlich?

    Sie schlief unruhig, wartete darauf, dass Hilary zurückkam. Und irgendwie verpasste sie ihre Rückkehr, doch als sie kurz nach drei Uhr morgens aufwachte, waren beide wieder im Wohnzimmer – Hilary auf dem Sofa, Alan auf dem Boden. Er schlief auf einem Lager aus Decken, die sie weiß Gott wo organisiert hatten; den Kopf hatte er auf seine zusammengerollten Klamotten gebettet.
    Anne stand im Türrahmen und betrachtete die beiden. Ein Neonlicht auf der anderen Straßenseite tauchte ihre Umrisse in bläuliches Licht. Hilarys Körper wirkte riesig, als sie sich schwerfällig auf der Couch umdrehte. Sie öffnete die Augen und sah Anne völlig ausdruckslos an – Leere beschrieb nicht einmal

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