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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alix Ohlin
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wäre sie irgendwann komplett durchgedreht. Aber das Leben war länger als Filme, und man wusste nie, wann die Dämme brechen würden; manchmal merkte man es nicht mal, wenn sie zu brechen begannen.
    Allmählich begann sich Anne nicht wie eine Mutter – Mütter waren für sie alt und asexuell –, sondern wie eine ältere Schwester zu fühlen. Es machte sie traurig, dass Hilary so allein auf der Welt war. Auch sie war allein, aber das war etwas anderes; sie war 22, attraktiv, Schauspielerin in New York. Eine Ausreißerin, die in Hausfluren schlief, war verletzlich, eine trostlose Existenz. Sie zerbrach sich den Kopf, weil Hilary jeden Tag mehr zuzunehmen schien. Irgendwo hatte sie einen sackartigen marineblauen Jogginganzug gefunden, den sie praktisch täglich trug und in dem sie wie ein alternder, fett gewordener Footballspieler aussah. Anne kaufte keine Donuts mehr, sondern bestückte den Kühlschrank mit Obst und Gemüse. Wenn sie abends nach Hause kam, machte sie häufig einen Salat und nötigte Hilary, ihn zu essen. Nicht dass sonderlichviel Zwang erforderlich gewesen wäre. Sie musste nur «Hier» sagen, und schon aß das Mädchen, was immer sie ihr auch vorsetzte.
    Gelegentlich schlug Anne nach dem Abendessen vor, noch eine Runde um den Block zu machen, und dann zogen sie ihre Mäntel an, schlenderten ein, zwei Stunden durch das East Village und sahen sich die Schaufenster an. Zwischendurch tranken sie einen Tee im Café Mogador, lauschten anderen Leuten, die gerade flirteten, miteinander Schluss machten oder über den Krieg stritten, ehe sie ihren Spaziergang fortsetzten. Doch nichts schien Hilarys Gewicht reduzieren zu können.
    Auch fing Anne an, sich Sorgen um die Zukunft des Mädchens zu machen – wie sollte es weitergehen ohne Ausbildung, ohne Job, ohne Freunde? Sie hielt nicht viel von Konventionen, glaubte aber an das Prinzip der Selbstverwirklichung; unter Schauspielern wurde viel darüber geredet. Für sie bedeutete Selbstverwirklichung, dass man allein darüber bestimmte, was man wirklich sein wollte. Doch Hilary hatte offenbar nicht die Absicht, etwas aus sich zu machen. Sie las nichts, hörte keine Musik, erzählte nicht mal, wovon sie träumte. Sie schien in einer ewigen Gegenwart zu leben, ohne je einen Gedanken daran zu verschwenden, was morgen passieren mochte.

    Mitte März ergatterte Anne eine tragende Rolle in einem neuen Theaterstück. Sie war nicht die Hauptdarstellerin, sondern spielte eine leicht durchgeknallte und sexbesessene Fremde, deren Leidenschaft die Geschichte ins Rollen und alle anderen Figuren aus dem Konzept brachte. «Du bist so perfekt dafür, dass ich am liebsten tot umfallen würde», sagte der Regisseur – wann immer er von etwas begeistert war, wollte er am liebsten tot umfallen. Doch als sie dasSkript las, wusste sie genau, was er meinte. Sie wünschte sich, ebenfalls tot umzufallen, bevorzugt auf der Bühne.
    Es war ein langes Stück mit entsprechend langen Proben in Long Island City, die praktisch unmittelbar danach begannen. Weshalb Anne plötzlich weit weniger häufig zu Hause war. Wenn sie spätabends heimkam, sah sie von Hilary oft nicht mehr als ihre unförmige Gestalt unter der Decke.
    Außerdem gab es da einen Mann, einen Bühnentischler mit Dreitagebart und leiser Stimme, der mit dem Regisseur befreundet war und zum Team gehörte. Er war ernst und klug, hatte dunkle Augen und ein erstaunlich weißes Strahlelächeln. Nach den Proben ging sie oft mit zu ihm nach Hause, und wenn sie nach ein oder zwei Tagen wieder in ihr eigenes Apartment zurückkehrte, kam es ihr beinahe so vor, als würde sie eine fremde Wohnung betreten, in der sie nur zu Gast war.

    An einem Wochenende erkrankte der Regisseur an einer Lebensmittelvergiftung und sagte die Proben ab. Anne hatte sich so sehr in ihre Rolle – und nicht zuletzt in die zusätzliche Dimension, die sie ihrer eigenen Persönlichkeit verlieh – verliebt, dass sie sich fast betrogen fühlte. Missmutig beschloss sie, die verschenkten Tage dazu zu nutzen, ein paar ganz alltägliche Dinge zu erledigen, die sie zu lange aufgeschoben hatte: Wäsche, Rechnungen, Maniküre. Als sie Hilary am Samstagmorgen nicht zu Hause antraf, fragte sich Anne, ob sie ihrem Rat gefolgt war und sich einen Job besorgt hatte, doch als das Mädchen den ganzen Tag über nicht auftauchte, begann sie sich unerklärlicherweise ernste Sorgen zu machen. Ihr hatte die Vorstellung gefallen, dass während ihrer Abwesenheit jemand zugegen war, dass

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