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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alix Ohlin
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Ganze etwas interessanter zu gestalten, hatte sie den Hintergrund der Figur ein wenig ausgeschmückt. Sie hatte so viel Zeit damit verbracht, dass sie mittlerweile glaubte, ihre Figur habe die tragische Dimension einer Hauptrolle. Sie stand im Mittelpunkt des Dramas, bei ihr liefen alle Fäden zusammen, auch wenn sie die Einzige war, die davon wusste. «Tja, eigentlich könntest du mir sogar helfen, ein bisschen Text zu üben», sagte sie, wobei sie sich ziemlich großzügig vorkam. «Und anschließend kümmern wir uns darum, wo wir dich unterbringen können.»
    Während sie ihr Skript aus der Tasche kramte, fischte Hilary die Donuts aus dem Mülleimer. Sie schlang den nächsten hinunter, trank einen Schluck Orangensaft und streckte die Hand nach den Seiten aus. «Bin so weit», sagte sie.
    Hilary hatte eine erstaunlich klare Stimme und schien nicht müde zu werden, die Zeilen ein ums andere Mal zu wiederholen. Als sie anfingen, versank Anne in ihrer Rolle wie in einem Swimmingpool: Zunächst war das Wasser noch unangenehm kalt, aber erfrischend; dann wurde sie langsam warm, die Temperatur erwies sich als genau richtig, und sie schwamm mit langen, sicheren Zügen ihre Bahnen, nun ganz mit dem Körper dabei. Sie vergaß alles um sichherum. Nur in diesen Augenblicken der Konzentration, in denen sie gleichzeitig ganz losließ, gelang es ihr, vollständig in eine andere Haut zu schlüpfen.
    Plötzlich war es schon Mittag.
    «Mist», sagte Anne. «Ich muss los. Der Kostümbildner wartet auf mich. Hör zu, Hilary.» Zum ersten Mal sprach sie das Mädchen mit ihrem Namen an, aber die Wirkung war gleich null. Ihr rundes Gesicht blieb so teilnahmslos wie immer.
    Dann sagte Hilary plötzlich: «Das Bad sieht aus wie ein Schweinestall.»
    «Was?»
    «Ich kann ja sauber machen, während Sie weg sind. Die Toilette, die Wanne, den Boden. Ich kümmere mich drum.» Sie sprach kurz und abgehackt. Anne ging auf, dass sie weder bitten noch betteln, nur feilschen würde.
    In den kommenden Wochen und Monaten sollte sie ihren Entschluss noch oft infrage stellen. Später konnte sie sich nicht daran erinnern, was sie in jenem Moment gedacht hatte: Es war, als wäre sie ohnmächtig geworden und erst wieder aufgewacht, nachdem sie ihre Entscheidung getroffen hatte. Doch der Umstand, dass sie es sich selbst nicht erklären konnte, war vielleicht ein ebenso guter Grund zum Handeln wie jeder andere. Manchmal musste man eben aus dem Bauch heraus agieren, um sich zu beweisen, dass man Tiefen hatte, die man selbst nicht verstand.
    «Na gut», erwiderte sie. «Aber den Schlüssel nehme ich mit, also musst du wohl oder übel hierbleiben. Essen kannst du, was du willst, aber es ist ohnehin nicht viel da. Zum Klauen gibt’s hier nicht viel, aber ich würde dir trotzdem raten, die Finger von meinen Sachen zu lassen. Falls hier irgendwas verschwindet, rufe ich die Polizei.»
    «Ich stehle nicht», sagte Hilary.
    «Natürlich nicht. Ich bin um fünf wieder da.»
    Nachdem sie die Wohnung verlassen hatte, vergaß sie das Mädchen komplett – ihren Namen, ihre Notlage, sogar, dass sie in denHausflur geschissen hatte. Und zwar nicht etwa, weil sie naiv oder gutgläubig gewesen wäre, sondern weil sie alles außer sich selbst als unwirklich empfand.

    Nach dem Termin mit dem Kostümbildner stand eine Probe an, und anschließend ging sie noch etwas trinken mit einem Typ, der gerade dabei war, eine Inszenierung von
Equus
mit einem ausschließlich weiblichen Ensemble auf die Beine zu stellen, die in einem Parkhaus an der Manhattan Bridge aufgeführt werden sollte. Sie ging durch Chinatown nach Hause. Auf den Stufen vor einer Kirche verkaufte ein Mann Schuhe, die er weiß Gott wo aufgegabelt hatte; sie waren fein säuberlich nebeneinander aufgereiht, als würden sie zu einer Gruppe unsichtbarer Gemeindemitglieder gehören. Sie besah sich ein Paar spitzer schwarzer Pumps mit strassbesetzten Riemchen. Sie rochen leicht nach Schweiß, und das Leder war ein wenig zerknautscht, aber sie passten perfekt. Als Kind hatte sie häufig die Sachen ihrer Mutter angezogen und davon geträumt, wie es sein würde, wenn sie eine schöne, erwachsene Lady wäre, und das Gefühl, die abgelegten Schuhe einer anderen Frau zu tragen, erinnerte sie an diese glücklichen Tage ihrer Kindheit. Sie drückte dem Mann einen Fünfer in die Hand, und er bedankte sich: «Gott segne dich, Süße.»
    Erst als sie die Haustür öffnete, fiel ihr Hilary wieder ein. Sie hatte eine Fremde den ganzen

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