In einer anderen Haut
nachts gelten zu lassen. Wenn sie also mit einem Mann schlafen wollte oder glaubte, dass es ihrer Karriere förderlich sein würde – ganz pragmatisch, da sie sich über Sex noch nie Illusionen gemacht hatte –, ging sie mit zu ihm. Was verheiratete Männer von vornherein ausschloss, und das war wohl auch gut so. Außerdem konnte sie so darüber bestimmen, wann die Nacht zu Ende war, indem sie einfach ging.
Eines Abends kämpfte sie sich auf dem Nachhauseweg am St. Mark’s Place durch Horden von Teenagern, die in die Stadt gekommen waren, um sich mit T-Shirts und CDs einzudecken und sich mit Nasenringen und Tattoos verschönern zu lassen. Zwei blonde Mädchen mit Rastalocken, die einen halb verhungerten Golden Retriever bei sich hatten, saßen auf dem Bürgersteig auf einer mexikanischen Decke, als würden sie Picknick machen. Anne beging den Fehler, dem dünneren, ziemlich verdreckten Mädchen in die Augen zu sehen. Sie trug ein Kapuzenshirt, hatte grün lackierte Fingernägel, und obwohl ihr Haar schmutzig und verfilzt war, besaß sie strahlend weiße Zähne. Anne nahm an, dass sie noch nicht lange von zu Hause fort war. Irgendwo suchten Menschen nach ihr, fragten sich, warum sie ausgerissen war, wo sie sich aufhielt.
«He», sagte das dünne Mädchen. «Haben Sie ein bisschen Kleingeld übrig? Bitte!»
Anne schüttelte den Kopf.
«Unser Hund hat echt großen Hunger.»
Anne setzte ihren Weg fort, während das Mädchen zornig hinter ihr herkrächzte.
«Nur ’nen Dollar!», rief sie. «Haben Sie nicht mal verdammte 50 Cent?»
Anne sah nicht zurück. Man konnte nicht allen helfen.
«Ich bin froh, dass ich keine Schwester habe», sagte Hilary.
Es war Donnerstag, und sie und Anne saßen auf dem Sofa, aßen Spaghetti und sahen sich eine Realityshow im Fernsehen an. Seit Neuestem aßen sie immer zusammen im Wohnzimmer, wenn Anne keine Proben hatte. Den Fernseher hatte Hilary besorgt; sie behauptete, ihn auf der Straße gefunden zu haben. Seit einem Monat wohnte sie nun in Annes Apartment, wurde immer rosiger, stiller und fetter. Manchmal nannte Anne sie insgeheim
Die Kuh
, doch war es nicht abwertend gemeint, vielmehr hatte es mit der Einsilbigkeit des Mädchens zu tun, ihren großen braunen Augen und der Schwerfälligkeit, mit der sie es sich auf dem Sofa bequem machte.
Sie sahen sich eine Serie an, in der zwei Schwestern die Familien tauschten, sich nun mit dem nervigen Ehemann und den nervigen Kindern der jeweils anderen herumschlagen mussten und darüber lernten, den eigenen nervigen Ehemann und die eigenen nervigen Kinder wieder zu schätzen.
«Ich habe einen Bruder», sagte Hilary. «Er ist zwölf. Er steht auf Videospiele. Ab und zu schicke ich ihm eine Postkarte.»
Anne konnte sich nicht erinnern, jemals einen derartigen Wortschwall aus ihrem Mund gehört zu haben. «Wie heißt er denn?»
«Joshua.»
«Nicht Josh?»
Hilary schüttelte den Kopf. «Wir nennen ihn immer beim vollen Namen. Meine Eltern sind sehr religiös. Ich komme vom Land – na ja, eigentlich nicht so richtig vom Land, bloß aus einer Kleinstadt. Nur dass es da nicht viel Stadt gibt. Joshua will auch weg. Wie gesagt, manchmal schreibe ich ihm eine Karte, aber ich schicke sie nicht hier ab. Ich frage Leute am Bahnhof, ob sie die Karten für mich in den Briefkasten stecken können, wenn sie angekommen sind. So weiß niemand, wo ich bin.»
«Du gibst sie irgendwelchen Fremden am Bahnhof?»
«Älteren Frauen, die allein unterwegs sind. Die sind am nettesten.Ich sag dann einfach, ich hätte nirgendwo einen Briefkasten gefunden, und frage, ob es ihnen etwas ausmachen würde, die Karte für mich einzuwerfen. Sie sagen immer Ja und stellen auch keine Fragen.»
«Du hast eine ziemlich gute Menschenkenntnis», sagte Anne.
Das Mädchen musterte sie kurz. «Ja, ich glaub schon.»
Durch diese beiläufigen Enthüllungen erfuhr Anne, dass Hilary gern Bananen aß und allergisch gegen Kokosnüsse war. Dass man in ihrer Heimatstadt nur zu Walmart gehen konnte, wenn man abends etwas erleben wollte. Dass ihr Vater tot, sie bei ihrer Mutter und ihrem Stiefvater aufgewachsen und Joshua eigentlich ihr Stiefbruder war. Doch über diese lapidaren Sachverhalte hinaus war sie nicht besonders mitteilsam. Nie ergab sich eine Anekdote aus dem, was sie erzählte, und sie zeigte so wenig Gefühle, weder positive noch negative, dass Anne sich allmählich fragte, ob sie irgendein schweres Trauma verdrängte. Wäre sie eine Figur in einem Film gewesen,
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